VW Golf IV R32 und VW Golf V R32 im Fahrbericht
Bruder-Duell der Power-Gölfe
Unter den vielen Allerwelts-Volkswagen in der Bundesrepublik ragen in der vierten und fünften Golf-Baureihe zwei so rasante wie seltene Leistungsträger besonders heraus. Wir stellen vor: R32!
15.11.2020 Daniel EndreßAuf dem Volkswagengelände vor dem Klassiker-Speicher nähert sich ein knurrig-raues Motorgeräusch. Es gehört zu einem dunkelblauen R32 – jenem Golf, der in der vierten Baureihe von 2002 bis 2004 die Leistungsspitze im Kompaktsegment bei den Wolfsburgern bildete. Am Steuer sitzt Ceyhan Erdogan von Volkswagen Classic, der den Kompaktsportler für unsere Fotoproduktion herausgeputzt hat. Er steigt aus: "Wartet kurz, ich hole eben den anderen", sagt Ceyhan und geht zurück in die Halle.
Der "andere", das ist der jüngere Bruder aus der fünften Generation, ebenfalls ein R32. Zwischen 2005 und 2008 konnten sich VW-Kunden für den Kompaktsportler mit 3,2-Liter-VR6 und Allradantrieb entscheiden. Das Auto, das Ceyhan aber unter dem Rolltor hindurchgleiten lässt, ist kein gewöhnlicher R32.
Kompakter mit 409 PS
Bei diesem Fünfer-Golf hat die Tuning-Schmiede HGP Hand angelegt. Das Unternehmen hat sich auf Turbo-Tuning an Autos aus dem VW-Konzern spezialisiert. Die zusätzliche Beatmung kitzelt aus dem VR6-Motor, der ab Werk schon ordentliche 250 PS leistet, satte 409 Pferdestärken heraus, dazu drücken brutale 530 Nm Drehmoment auf die Kurbelwelle – eine Höllenmaschine.
Dabei ist der VR-Motor, der die beiden R32 antreibt, schon für sich genommen eine Besonderheit. Die Zylinder sitzen sich gegenüber – wie in einem V-Motor – und jeder Pleuel ist mit einem eigenen Hubzapfen der Kurbelwelle verbunden – wie in einem Reihenmotor. Der Vorteil: Dadurch dass man die Zylinder versetzt gegenüberstellt und damit den Zylinderwinkel verringern kann, bleibt der Motorblock kurz und ist zugleich deutlich schmaler als ein V-Motor. So können sich beide Zylinderbänke einen Zylinderkopf teilen. Neben VW baute auch Lancia Motoren dieser Art.
Wir bitten Ceyhan, uns irgendwo ins niedersächsische Flachland zu führen, wo wir die beiden Sportler in Ruhe ausprobieren und fotografieren können. Er fährt im weißen Golf V vor, ich sitze im Vierer-Golf R32 und folge ihm. Das Auto ist selten: Von fast fünf Millionen verkauften Golf IV trugen gerade einmal 12.000 das R32-Logo im Kühlergrill. 5.000 Autos verkaufte VW nach Nordamerika, 7.000 blieben in Deutschland.
Der Wagen aus der VW-Klassik-Sammlung hat erst jungfräuliche 20.000 Kilometer auf der Uhr und fühlt sich wie ein Neuwagen an. Die lederüberzogenen Sportsitze geben reichlich Seitenhalt und wirken robust. Instrumente, Bedienelemente und Mittelkonsole wurden mit der VW-Sachlichkeit designt, die Ende der 90er-Jahre typisch war. Zierelemente? Verspielt verformte Lüftungsdüsen? Alles unnötiger Firlefanz! Der Pilot eines 241-PS-Autos muss schließlich auf die Straße achten.
Damit ist man in diesem Wagen tatsächlich gut beraten, denn der VR6-Motor treibt den fast 1,5 Tonnen schweren Kompaktsportler zügig voran. Den Gashahn in einem R32 aufdrehen, ohne dass man grinsen muss? Keine Chance! Der Sound ist knurrig, das Fahrwerk ruppig und die Lenkung präzise. Man neigt schon nach wenigen Minuten dazu, die Kurven sportlich zu nehmen, und wenn möglich, die direkt ansprechende Beschleunigung zu genießen – den Sprint von null auf hundert schafft er immerhin in 6,6 Sekunden. Die Federung ist so hart abgestimmt, dass schon kleine Bodenwellen direkt an die Passagiere weitergegeben werden. Zumindest die leichteren Stöße dämpfen die bequemen Sitze halbwegs ab.
Der Next-Level-Golf
Auf einer Landstraßenkreuzung irgendwo im Landkreis Gifhorn halten wir unsere Kompaktsportler an. "Na? Macht er Spaß?", fragt Ceyhan grinsend. Ich kann diese Frage nur bejahen. "Na, dann steig mal hier ein." Er gibt mir den Schlüssel zur 409-PS-Maschine. Das Design des Innenraums hat die 90er-Jahre eindeutig hinter sich gelassen. Das Navigationssystem ist in eine Art Schürze integriert, die mittig das Armaturenbrett ziert. Die Sitzflächen wurden mit hellbraunem und die Wangen mit schwarzem Leder bespannt. Allerdings fühlen sie sich deutlich härter an als im Vorgänger.
Die braune Farbe findet sich auch in Zierelementen der Türen wieder. Das Lenkrad sieht fast wie im Vierer-Golf aus, hat aber Knöpfe zur Steuerung der Musikanlage und des Bordcomputers. Der Motor grummelt im Leerlauf fast enttäuschend leise vor sich hin – damit weckt man zumindest nicht die Nachbarschaft. Beide Hände ans Lenkrad, der Fuß betätigt das mit Alu-Blende verzierte Gaspedal. Sofort knurrt der VR6 los, und der HGP-Turbo stimmt pfeifend mit ein. Das DSG-Getriebe schaltet weich durch die Gänge, jedes Zucken mit dem Gasfuß wird als Beschleunigung spürbar.
Vollgas aus dem Stand setzt ungeahnte Gewalten frei. Nach einer kurzen Gedenksekunde des Getriebes schießt der Golf los wie von einem Katapult abgefeuert, begleitet von einem Konzert aus dröhnendem Motor und pfeifendem Turbo. Zwischen 5.000 und 6.000 Umdrehungen schaltet die Automatik. Die Lenkung wird spürbar steifer. Adrenalin schießt durch den Körper, und weniger als fünf Sekunden später passiert die Tachonadel die 100-km/h-Markierung.
Damit legt der HGP-Golf auf das Leistungsniveau des R32 nochmals eine Schippe drauf. Doch schon im Serienzustand haben die beiden kräftigsten Golf ihrer jeweiligen Baureihe stets mehr als genug Leistung, um die Autos in eine erdnahe Umlaufbahn zu beschleunigen. Die Gewissheit, dies auf der Heimfahrt von der Arbeit jederzeit abrufen zu können – das macht den Reiz der beiden R32 aus.