Seat 1200 Sport Bocanegra (1975) Fahrbericht
Seltener als Ferrari - der erste echte Seat!
Vor 40 Jahren brachte Fiat-Lizenznehmer Seat erstmals ein Modell, bei dem sich mehr als das Markenlogo von dem der Italiener unterschied. Wegen seiner schwarzen Front bekam das Sportcoupé den Spitznamen Bocanegra. Probefahrt mit dem leichtgewichtigen Oldtimer aus Spanien.
01.02.2016 Markus StierDer Wandel war überfällig. Seit vier Jahrzehnten lebte Spanien unter der Franco-Diktatur, die längst abgewirtschaftet hatte. Der "Caudillo" selbst hockte zunehmend senil in seinem Palast, den man nur den Bunker nannte, unterschrieb aber weiter fleißig Todesurteile gegen Separatisten. Die Wirtschaft steckte im Klammergriff der Ölkrise, und Spaniens Autowirtschaft hing immer noch am Tropf des einstigen faschistischen Bruderlandes Italien. Täglich liefen in der Zona Franca, dem Freihandelsgebiet Barcelonas, Kopien von Fiat-Modellen vom Band, denen man ein Seat-Emblem aufprägte.
Doch damit sollte endlich Schluss sein, und dazu bedurfte es einer italienisch-spanischen Verschwörung. Stahl-Couturier Aldo Sessano konnte mit seinem Entwurf eines Schrägheck-Coupés als Nachfolger des NSU Prinz bei den Deutschen nicht landen, denn die Tedesci aus Bayern hatten gerade NSU der Marke Audi einverleibt und das Projekt gestrichen. Sessano präsentierte seine Studie unter dem Namen Nergal in Turin in Eigenregie, und der Entwurf fand Gefallen bei Seat-Chefentwickler Amat. Der suchte noch eine Karosserieschmiede und wurde bei Inducar in Spanien fündig.
Fiat-Motor auf 67 PS gesteigert
Man war noch nicht so weit, dass man einen eigenen Motor gehabt hätte, aber jede große Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Der gängige 1,2-Liter-Vierzylinder aus dem Fiat-Regal musste herhalten, dessen seitliche Nockenwelle statt von einer Steuerkette nun mit Zahnriemen angetrieben wurde. Der 1,2-Liter im Seat 1200 Sport Coupé war von 60 PS mithilfe eines verstellbaren Solex-Doppelvergasers auf 67 Pferdestärken gebürstet und entgegen der ursprünglichen Sessano-Planung für den NSU im Seat vorn quer eingebaut.
Und dort hockt er tief geduckt im Motorraum des Seat 1200 Sport Coupé. Der Luftsammler für die Innenraumbelüftung ist ebenso groß wie der 1,2-Liter, den man aber nicht unterschätzen sollte. Er brabbelt schon im Leerlauf ganz munter vor sich hin, dreht bis 6.200 Touren, die er aber gar nicht braucht. Schon ab 3.500/min zieht der Katalanen-Scirocco selbst auf winkeligen Bergsträßchen bei Tarragona munter bergan.
Italienischer Chic mit Alpine-Anleihen
Die Karosserie des Seat 1200 Sport Coupé wiegt eben auch nur 805 kg und ist lediglich 3,67 m kurz. Das verdankt sie nicht zuletzt einem steilen Schrägheck mit dem keck wie ein warnender Zeigefinger aufragenden Auspuff. Das Heck des Autos erinnert ein bisschen an die französische Alpine A310, während die Nase italienischen Chic zur Schau tragen sollte.
Wie beim Lancia Montecarlo rahmte Sessano die Front des Seat 1200 Sport Coupé in mattes Schwarz: Mattierte Motorhauben sollten die Augen eiliger Sportfahrer vor Reflexionen schützen und waren in den 70ern in Anlehnung an Rallyeautos schwer en vogue.
Darum heißt der 1200 Sport "Bocanegra"
Offiziell trug der erste in Eigenregie entwickelte Seat bei der Präsentation 1975 den Namen 1200 Sport, aber im Volksmund erhielt er gerade wegen der dunklen Nase den Spitznamen Bocanegra, schwarzer Mund. Für ein echtes Sportcoupé ist er ein bisschen hochbeinig und rollt auf nicht gerade überbreiten Reifen der seltenen Kombination 165/70 R 13.
Am griffigen Lenkrad des Seat 1200 Sport Coupé ist durchaus der Sportfahrer gefragt, selbstredend ohne Servolenkung will das spanische Stierchen besonders in Spitzkehren fest bei den Hörnern gepackt werden. Der Bocanegra folgt aber Lenkbefehlen angenehm präzise und zeigt sich in den Bergen bei Tarragona erfreulich agil - auch ohne dass der Fahrer die Pirelli P4 zum Jaulen bringen müsste. Dabei hilft allerdings auch ein moderneres Bilstein-Fahrwerk, das die originalen Dämpfer abgelöst hat.
Sofa statt Seitenhalt
Entschlossenheit und eine klare Richtung fordert auch das Fiat-Vierganggetriebe mit gekrümmtem Schalthebel und hakeliger Grundausrichtung. Der Lenker entwickelt bei häufiger Landstraßenpartie mit dem Katalanen auch eine kräftige Rumpfmuskulatur, denn die Sitze sind ihm keine große Stütze. Sofa statt Seitenhalt, plüschig weich in Cordhosenbraun, so waren sie nun mal, die 70er.
Das Seat 1200 Sport Coupé schlägt eher bei den Accessoires durch. Auch wenn aus ihm kein Heckmotor- NSU wurde, ließ man ihm die feschen Kiemen an den Hüften. Der Tankdeckel ist aus mattem Aluminium gefertigt, die Motorhaube wie bei echten Sportwagen der Epoche vorn angeschlagen.
Optimistische 180 km/h
Mitten in dem auf alt getrimmten schwarzen Kunstleder ragt in alusilbrigem Kunststoff der Armaturenträger mit dominantem Drehzahlmesser und Tacho aus der Landschaft. Der Geschwindigkeitsmesser des Seat 1200 Sport Coupé endet erst bei optimistischen 180 km/h. Tatsächlich beschleunigt der Bocanegra aus eigener Kraft immerhin bis 157 km/h.
Die Beschleunigung von null auf 100 km/h erledigte das Seat 1200 Sport Coupé laut Datenblatt in ernüchternd gemächlichen 17 Sekunden, aber das liegt daran, dass man in der Zona Franca auch nach der Einführung des größeren Seat 124 Coupé den Umgang mit Sportwagen noch nicht so richtig gewohnt war. Gemessen wurde grundsätzlich mit vier Personen plus 40 Kilo Gepäck an Bord.
Ab 1977 mit 10 PS mehr
In einer späteren Version verschafften die Schöpfer des Seat 1200 Sport Coupé Bocanegra ihrem ersten eigenen Baby einen 1,4-Liter aus dem Seat 1430, der mehr Drehmoment und immerhin 77 PS entwickelte. Das knuffige Coupé stand ab 1977 auch nicht mehr auf der Bodengruppe des Fiat 127, sondern der des 128.
In vier Produktionsjahren liefen rund 19.300 Schwarzgesichter vom Band. Ein großer kommerzieller Erfolg war das Seat 1200 Sport Coupé Bocanegra für Spaniens ersten Automobilhersteller nicht, in Deutschland importierte Walter Hagen einige der späteren 1,4-Liter-Modelle, aber außerhalb der Iberischen Halbinsel nahm ihn die Welt kaum zur Kenntnis.
Aber es ging auch gar nicht in erster Linie ums Geld. Das Seat 1200 Sport Coupé war vor 40 Jahren ein Signal des Aufbruchs aus alten Abhängigkeiten. Noch im Herbst 1975 starb Diktator Franco, und Spanien brach auf in ein neues, freundlicheres Zeitalter. Es ist kein Zufall, dass der Bocanegra hinter seiner dunklen Schnauze in knalligem Froschgrün lackiert ist: Grün ist die Hoffnung.