Original-Test Rolls-Royce Silver Shadow
Das komfortabelste Reisefahrzeug?
1969 fuhren wir den Rolls-Royce Silver Shadow und räumten mit der Sage auf, dass Defekte an solch einem edlen Briten nicht vorkommen. Den Original-Text verfasste Reinhard Seiffert.
29.06.2023 Marcel SommerDer Butler öffnet das schwere, schmiedeeiserne Tor. Sir Rolls gleitet lautlos hindurch. Der Butler schließt das Tor. Ein Schuss kracht, im Fond sinkt eine Gestalt getroffen zusammen. Aber Sir Rolls gleitet weiter. Aus so nichtigem Anlass hält er nicht an. Sir Rolls, mit vollem Namen Rolls-Royce Silver Shadow, ist das renommierteste Auto der Welt. Ein Butler, der für Sir Rolls das Tor öffnet, würde es deswegen noch lange nicht für einen Mercedes 600 öffnen. Und kein anständiger englischer Mörder würde ohne triftigen Grund in einen Mercedes hineinschießen. Eher schon in einen Bentley, denn als Bentley reist Sir Rolls inkognito: komplett, aber ohne Rolls-Royce-Kühler. Ohnehin schätzt Sir Rolls es nicht, von jedermann gleich erkannt zu werden. Er verzichtet auf Chrom und ausladende Formen. Er ist teuer genug, um sich das leisten zu können.
Von Autotestern hält Sir Rolls nicht viel. Die amerikanische Zeitschrift "Car and Driver" stufte ihn vor einigen Jahren hinter dem Mercedes 600, dem Cadillac und dem Lincoln erst an vierter Stelle ein und meinte, dass bei den nur halb so teuren Konkurrenten doch einiges mehr geboten würde. Sir Rolls kann über solche kleinlichen Vergleiche nur lächeln. Die Society hält zu ihm. Sir Rolls ist ein Verkaufserfolg.
Sir Rolls ist gekränkt
Sir Rolls ist 5,17 Meter lang. Das unterstreicht die Zurückhaltung, denn der Mercedes 600 bringt es auf 5,54 Meter, der kleinste Cadillac auf 5,61 Meter. Sir Rolls ist auch über 15 Zentimeter schmaler als seine Konkurrenten, überragt sie dafür aber in der Höhe. Die Älteren unter seinen Benutzern wissen das zu schätzen, denn man kann einsteigen, ohne sich wie ein Taschenmesser zusammenzufalten. Begehrtestes Karosserieteil ist die "Emily" auf dem Kühler. In kleptophilen Gegenden (kleptophil — mitnehmefreudig) ist es ratsam, eine zusätzliche Sicherung einzubauen. Wenn dann jemand der Emily um ihren neusilbernen Busen fasst, ertönt umgehend die Kompressorfanfare.
Für eine neue Emily müssen 400 Mark angelegt werden, der Kühlergrill steht im deutschen Ersatzteilkatalog mit 4.000 Mark verzeichnet. Einbauzwang besteht nicht — man kann ihn für diesen Preis auch als Zimmerschmuck anschaffen. Die Buchstaben RR sind bekanntlich seit dem Jahr 1933 nicht mehr rot, sondern schwarz eingelegt. Das ist das Jahr, in dem Frederick Henry Royce das Zeitliche segnete.
Die übrigen Farben können gewählt werden — darunter drei Schwarz, drei Blau und drei Grün. Es ist selbstverständlich nicht gleichgültig, ob man einen perlschwarzen, einen zobelschwarzen oder aber schlicht einen schwarzen Rolls-Royce fährt. Am Heck hat Sir Rolls einen gewaltigen Kofferraum, der sich durch eine niedrige Ladekante auszeichnet. Er öffnet sich aber nicht, wie derjenige des Mercedes 600, auf Knopfdruck von selbst. Auch in anderen Punkten wurde zum heutigen Stand der Karosseriebautechnik strenge Distanz eingehalten: Die Türen können nur mit Kraft und vernehmlichem Geräusch geschlossen werden, eine Zentralverriegelung — bei Cadillac und Mercedes selbstverständlich— muss der Rolls-Besitzer trotz erheblich höherem Preis entbehren.
Die Sage, dass Defekte am Rolls-Royce erstens nicht vorkommen können, und dass zweitens bei einem Defekt, wenn er trotzdem vorkommt, sofort ein Hubschrauber mit dem passenden Ersatzteil in unmittelbarer Nähe niedergeht, bewahrheitete sich beim Testwagen nicht. Der nicht funktionierende Scheibenwascher erwies sich als schlicht eingerostet, eine Tür verlor einen zum Schließen unentbehrlichen Ring, aber der Hubschrauber blieb aus. Die elektrischen Fensterheber taten eines Tages nicht mehr mit, und schließlich begann sogar der Anlasser in den unpassendsten Momenten tief zu schweigen. Das lag vielleicht auch daran, dass Sir Rolls wegen einiger Ausdrücke, die wohl nicht hätten fallen sollen, gekränkt war. Für die fehlenden Teile ließ sich Rat schaffen, denn Importeur Auto-König hält einen vollständigen Rolls-Royce in Einzelteilen parat. Versand per Express.
Sir Rolls hatte, ehe er in die Hände von auto motor und sport fiel, bereits über 30.000 km auf unwirtlichen kontinentaleuropäischen Straßen hinter sich gebracht, fern vom heimatlichen Crewe. Das erklärt die kleinen Mängel, und es erklärt wohl auch die ächzenden Geräusche in der Karosserie, die Sir Rolls auf unebener Bahn von sich gab. Dass der — elektrisch verstellbare — Fahrersitz etliche Millimeter Spiel hatte und bei jedem Bremsen oder Beschleunigen in Längsrichtung verrutschte, war schon eine recht störende Eigenschaft, während das schief eingebaute Lenkrad nur als Schönheitsfehler notiert werden soll. Für kontinentale Radiohörer hielt Sir Rolls Überraschungen bereit: Das serienmäßig eingebaute Gerät hatte zwar mehrere Kurzwellenbereiche, über die man mit allen Sendern des Commonwealth Kontakt aufnehmen und zahlreiche Morsezeichen empfangen konnte, aber es fehlte an geeigneten Einrichtungen für näherliegende, musikträchtige UKW-Sender. Auch hoffte man vergebens auf Stereo-Klang — die zwei Lautsprecher waren einkanalig. Die einziehbare Antenne setzte sich beim Ein- und Ausschalten des Radios mitnichten von selbst in Bewegung: Man musste einen besonderen Knopf so lange drücken, bis die gewünschte Antennenstellung erreicht war. Über vielerlei Knöpfe, Hebel und Klappen konnte warme, bei eingebauter Klimaanlage auch kalte Luft in großen Mengen in den Wagen geleitet werden. Vier Wochen Testzeit reichten jedoch nicht aus, um die Beherrschung dieses Systems bis zur Virtuosität zu erlernen. Dass geheime Kräfte am Werk sind, hört man nach jedem Drücken, Drehen oder Ziehen an schnaufenden und zischenden Geräuschen. Die in Leder gebundene Betriebsanleitung vermag wenig Aufklärung zu bringen: Wenn man sie gelesen hat, kennt man sich erst recht nicht mehr aus.
Aber deshalb braucht niemand zu verzagen: Laut Prospekt hat Rolls-Royce in London, N.W. 10, besondere Anleitungskurse eingerichtet, "um den Fahrzeugeigentümern oder ihren Chauffeuren behilflich zu sein, sich in der Handhabung von Rolls-Royce und Bentley-Fahrzeugen zu üben". Sir Rolls flüstert Sir Rolls ist schweigsam, über seine Leistung spricht er nicht — in keinem Rolls-Royce-Prospekt stand jemals etwas von PS. Wer sich damit nicht zufrieden gibt und vom Werk genau wissen will, wie viel PS es sind, erhält die vielsagende Antwort: genug. Es war nie eine sensationell hohe Leistung, die in Crewe so vornehm verschwiegen wurde. Die alten Sechszylinder Rolls-Royce bewegten sich höchst gemächlich vorwärts. Der jetzige 6,2 Liter-Achtzylinder hat es ebenfalls nicht überaus eilig.
Aber mit Sir Rolls hat man auch nicht den Ehrgeiz, jemandem davonzufahren. Immerhin stehen Fahrleistungen zur Verfügung, die man bei kleineren Autos als sportlich bezeichnen würde: Von 0 auf 100 km/h beschleunigt er in 12 Sekunden, als Maximum erreicht er 186 km/h. Das automatische Getriebe ist, um die Schaltvorgänge unmerklich zu machen, zum Hochschalten bei niedriger Drehzahl erzogen: Schon unterhalb von 100 km/h befindet es sich meist im oberen (III.) Gang, und dann ist das Temperament nicht gerade feurig. Durch Kickdown oder Zurückschalten kann man aber Überholvorgänge und Steigungen bis ca. 120 km/h auch im mittleren Gang absolvieren: Sir Rolle wirft sich dann mit Wucht nach vorn.
In diesem Fall wird der Motor etwas hörbar, und das geht ganz gegen die Prinzipien von Rolls-Royce. Auf schnelles Fahren kommt es bei diesem Auto nicht an, umso mehr aber auf leises: Sir Rolls spricht nicht, Sir Rolls flüstert. Das ist in der Tat eine Besonderheit, die nur wenige Autos der Welt zu bieten haben. Der Einspritzmotor des Mercedes 600 läuft im Leerlauf und bei niedriger Drehzahl weit vernehmlicher. Im Rolls-Royce fährt man zumeist, ohne ein Motorgeräusch zur Kenntnis zu nehmen. Die Außenwelt wird ebenso geschont: Man muss schon genau hinhören, wenn man Auspuffgeräusche wahrnehmen will, das große Schiff setzt sich nahezu lautlos in Bewegung. Das Phonmeßgerät von auto motor und sport wurde minimal beansprucht, aber eine kleine Demütigung musste Sir Rolls trotzdem hinnehmen: Bei 180 km/h ist nicht nur der Mercedes 600 leiser, sondern auch ein Konkurrent aus dem eigenen Lande, 60.000 Mark billiger: der Jaguar XJ 6. Force majeur...
Sir Rolls hat manches nicht nötig, aber eines hat er ganz besonders nötig: Benzin. Zweieinhalb Tonnen sind nicht wenig, die Geräuschdämpfung kostet Leistung und Kraftstoff, die Klimaanlage ebenfalls. Der elektrische Mechanismus, mit dem die Tankklappe von innen geöffnet wird, musste oft in Aktion treten, denn unter 24 Liter/100 km tat Sir Rolls es nicht. Ob Autobahn, ob Stadtverkehr — der Tankzeiger bewegte sich stetig abwärts.
Was Sir Rolls nicht nötig hat
Wenn schon angesichts diverser Merkmale der Karosserie ein gewisses Staunen kaum zu unterdrücken war — beim Fahren offenbarte Sir Rolls noch weitere Eigenheiten. So in der Lenkung: Die Freude, dieses große Automobil mit der leichtgängigen Servolenkung ohne Mühe dirigieren zu können, wich bald dem Gefühl, dass mit dieser Lenkung höchstens eine ungefähre Beeinflussung der Fahrtrichtung möglich war. Bei diesem Eindruck blieb es leider: Sir Rolls entwickelte eine ausgeprägte Neigung, allen Unebenheiten der Straße zu folgen, und der Mann am Steuer war stets damit beschäftigt, eine wenigstens ungefähre Einhaltung der Fahrtrichtung zu garantieren. Daraus resultierte nicht nur ein Unsicherheitsgefühl, sondern auch ein Übermaß an fahrerischer Beschäftigung. Von selbst geradeausfahren — das gehört leider zu den Dingen, die Sir Rolls nicht nötig hat.
Zu seinen Gunsten muss vermerkt werden, dass diese Eigenschaft bei hoher Geschwindigkeit nicht schlimmer wurde. Im Gegenteil: je besser die Straßenoberfläche wurde, umso mehr war Sir Rolls bereit, geradeauszufahren. Schnelles Dauertempo auf guter i Autobahn war darum weniger problematisch als langsames Fahren auf schlechter Landstraße. Auf der Autobahn vermag Sir Rolls die Erwartung, er sei eines der komfortabelsten Reisefahrzeuge der Welt, einigermaßen zu erfüllen. Besonders das geringe Fahrgeräusch trägt dazu bei, aber auch die Ruhe, mit der das gewichtige Auto größere Bodenunebenheiten zu schlucken vermag. Mit den kleinen Bodenwellen, besonders den Querrinnen, sieht es — trotz an Schräglenkern einzeln aufgehängten Hinterrädern — nicht ganz so günstig aus. Sie scheinen Sir Rolls zu verärgern: Er schüttelt sich unwillig, wenn er mit solchen Unvornehmheiten konfrontiert wird. Auch Landstraßen-Schlaglöcher mag er nicht so gern, und bei langsamem Fahren werden jene Oberflächenmängel deutlich spürbar, die durch Straßenbahnen oder Kanaldeckel den Stadtstraßen eingeprägt worden sind. Man vermisst die früher — beim Starrachs-Fahrwerk — vorhandenen verstellbaren Stoßdämpfer, die für langsames Dahinrollen und schnelles Reisetempo Anpassungsmöglichkeiten boten. Ein Plus ist die automatische Niveauregelung, die bei leerem und beladenem Wagen nicht nur Bodenfreiheit und Scheinwerfereinstellung, sondern auch den Federungskomfort konstant hält.
Während sich Sir Rolls in der Komfortfrage noch gerade aus der Affäre ziehen kann, zeigt er sich in der Fahrsicherheit auch ernsteren Prüfungen gewachsen. Hat man sich an die Lenkung ein wenig gewöhnt und versucht, eine Kurve schneller als üblich zu nehmen, dann erweist sich Sir Rolls zunächst als Anhänger der Übersteuerpartei: Er schwenkt mit dem Heck nach außen. Er tut dies aber nur bis zu einem gewissen Grade und kann dann mit relativ kleinen Gegenlenkbewegungen unter Kontrolle gehalten werden. Sir Rolls ist also nicht tückisch, er entstammt offenbar einer jener englischen Familien, in denen solides Übersteuern schon seit dem Jahre 1066 geheiligte Tradition ist. Lässt man ihn mit spektakulärem Driftwinkel um Hockenheims Kurven rennen, was zu seinem vornehmen Habitus natürlich gar nicht passt, dann scheint er fast so etwas wie ein geheimes Vergnügen zu empfinden.