Original-Test Ford Thunderbird
Kraftvoller Straßenkreuzer
auto motor und sport fuhr 1962 den Ford Thunderbird und klärte über die technischen Erstaunlichkeiten eines amerikanischen Autos auf. Den Original-Text verfasste Reinhard Seiffert.
22.06.2023 Marcel SommerAmerika ist nicht nur ein großes Land – es ist ein großartiges Land. Sowohl die geografischen Dimensionen als auch die gedanklichen Dimensionen sind dort größerer Art als bei uns. Nicht einmal die räumliche Enge der Großstädte, unter der Nordamerikas Metropolen kaum weniger leiden als Europas (wenn man auch im Bau innerstädtischer Schnellstraßen schon erheblich weiter ist), hat daran etwas ändern können: die USA-Automobile, Erzeugnisse der größten Automobilfabriken, die es auf der Welt gibt, sind fast durchweg viel größer, viel schwerer und viel stärker als jene Fahrzeuge, die wir als ernstzunehmende Autos ansehen und täglich benutzen. Ein Thunderbird – nach amerikanischen Begriffen so etwas wie ein "Sportwagen" – wiegt etwa zwei Tonnen und ist 5,20 Meter lang. Sein 6,4 Liter-Motor kostet 920 Mark Kraftfahrzeugsteuer im Jahr und verbraucht 20 bis 25 Liter Benzin pro 100 km.
Unserem Kleinbürgerverstand jagen solche Zahlen Schreckensbilder einer ständig geleerten Brieftasche ein, wenn wir nicht gerade jenen Berufsgruppen angehören, die das verdiente Geld nur mit Mühe wieder loswerden können. In Amerika kann sich nicht gerade jeder, aber doch beinahe jeder ein solches Auto leisten. Sonst würde es Ford nämlich nicht in großer Stückzahl serienmäßig produzieren.
Wir werden niemals dahin kommen, so phantastische Autos fahren zu können. Die USA-Kompaktwagen- keineswegs typische Wagen für Amerika – sind für uns gerade noch erschwinglich und werden bereits als große Autos angesehen. Sechsliter–Achtzylinder-Zweitonner aber gehen über die Begriffe unserer Kraftfahrzeug- und Mineralölsteuersätze.
Natürlich ist es nicht Inbegriff allen Glücks, mit einem solchen Schiff herumfahren zu können. Aber die amerikanische Lösung der Aufgabe, ein Auto zu bauen, bleibt uns fremd, und das verdient sie keineswegs. Als ehrlicher Tester ist man gezwungen, von solch einem Auto immer wieder begeistert zu sein. Wo wir uns mit Drehmomenten, Beschleunigungskurven, Gangabstufungen, Schaltungen, Kupplungen, Drehzahlbereichen, Vibrationen, Motor-Elastizität und ähnlichen Dingen beschäftigen, da ist beim großen amerikanischen Auto nur eins: Kraft. Diese Kraft sieht man nicht und hört man kaum, man braucht sich nicht zu überlegen, wie man sie am besten einsetzt, sie ist nicht gerade dann am Ende, wenn man auf sie angewiesen wäre, sondern sie ist immer da – viel mehr, als man gewöhnlich auszunutzen beabsichtigt. Man mag es Verschwendung nennen oder nicht – auf jeden Fall ist es eine großartige Sache.
Beim Thunderbird 1962 sind es 255 DIN-PS – nach SAE-Norm 300. Das Drehmoment nach SAE-Norm (es wird in DIN nicht angegeben) beträgt 59 mkg bei 2.800 U/min: bei Zahlen dieser Größenordnung kommt es auf ein bisschen mehr oder weniger schon nicht mehr an, ebenso wie es unter Millionären keine Rolle spielt, ob einer sein Vermögen nun auf 50 oder 60 Millionen beziffert. Auf die Räder übertragen wird dieses Kraft-Reservoir über ein Cruise-O-Matic, ein automatisches Getriebe (hydraulischer Drehmomentwandler mit Dreigang-Planetengetriebe), dessen weiches Arbeiten ebenso effektvoll wie unmerklich vonstattengeht. Unter der Motorhaube, die etwa die Größe eines europäischen Kleinwagens hat, findet man außer dem mächtigen V-Achtzylinder noch eine kleine Fabrik, die Servokräfte für Lenkung und Bremsen bereithält.
Ohne mehr zu tun, als das Gaspedal voll durchzutreten, beschleunigt man mit diesem Auto in rund 10 Sekunden von 0 auf 100 km/h – das kann notfalls auch Ihre schulpflichtige Tochter, und sie wird damit jedem noch so virtuos geschalteten Mercedes 220 SE und jedem Porsche Super 90 davonfahren. Selbst unsere schnellen Autos sind eben im Grunde nichts anderes als Kompromisse aus räumlichen und finanziellen Gründen.
Dass dem Ingenieur, der im Rahmen enger Kompromisse arbeiten muss, mehr abgefordert wird als demjenigen, der aus dem Vollen schöpfen kann, ist eine alte Erfahrung. So kommt es, dass unsere durch Hubraum- und Benzinsteuern in der Entwicklung behinderten Autos teilweise auf technisch höherer Stufe stehen als die amerikanischen. Hervorragende Straßenlage, gute Federung bei geringem Gewicht, gute Leistung und Elastizität bei kleinen und sparsamen Motoren, geschickte Raumausnutzung bei beschränkten Ausmaßen sind typische Kennzeichen europäischer Autos. Man kann mit ihnen auf kleinerem Raum manövrieren und schneller um enge Kurven fahren als mit großen Amerikanern.
Die technischen Erstaunlichkeiten eines amerikanischen Autos – und der Thunderbird ist ein typisch amerikanisches Auto, wenn er auch schon zur Luxusklasse zählt – sind ganz anderer Art. Das automatische Getriebe zum Beispiel ist, wenn man es von der technischen Seite her betrachtet, ein außerordentlich kompliziertes und hoch entwickeltes Ding – aber dem Fahrer wird davon nichts bewusst, weil die ganze schwierige Technik nur seiner Bequemlichkeit dient. Es wird in großer Serie nach längst durchgeprobten Methoden produziert und ist für den Amerikaner kein Gegenstand größeren Respektes als ein Kühlschrank oder ein Telefon. Genauso ist es mit der Servolenkung, die es ermöglicht, selbst bei stehendem Wagen das Lenkrad mit dem kleinen Finger von einem Anschlag zum andern zu drehen. Dass der Wagen mit ausgefallener Servolenkung praktisch nicht zu fahren ist, interessiert nicht – das Ganze ist im Grunde so primitiv gebaut, dass es nicht kaputtgeht. Und der große, leise und unerhört kraftvolle Achtzylindermotor? Ihn in stiller Muße zu bewundern, würde keiner amerikanischen Hausfrau einfallen. Man hat ihn eben.
Was der Thunderbird nicht kann
Das Naserümpfen europäischer Experten über amerikanische Autos läuft oft darauf hinaus, dass diese in der Straßenlage und in der Qualität ihrer Bremsen – somit in der Fahrsicherheit – nicht an unsere herankommen. Nun – abgesehen davon, dass auch renommierte europäische Automobilfabriken von ihren Bremsen nicht allzu laut reden können – es gibt Unterschiede, und es gibt offenbar auch Fortschritte. Die Bremsen des Thunderbird, den auto motor und sport vor gut zwei Jahren testete, stellten nach wenigen Kilometern forcierter Fahrt auf kurvigen Landstraßen ihre Tätigkeit nahezu völlig ein. Alles war weg: das schnelle Ansprechen auf den leisesten Fußdruck, die gute Dosierbarkeit, die kräftige Verzögerung. Den 1962er Thunderbird haben wir hintereinander einmal aus der Höchstgeschwindigkeit (die Kleinigkeit von 186 km/h) und dreimal aus 140 km/h abgebremst, und sie taten es danach immer noch. Zwar hatte ihre Gleichmäßigkeit etwas gelitten, aber mithilfe der Servolenkung konnte man den Wagen auch dann noch mühelos in der Richtung halten. Wir haben schließlich auf einer Serpentinenstraße versucht, die Bremsen zum Erliegen zu bringen – es war nicht zu machen. Also: die Bremsen zumindest dieses – wenn auch nicht jedes – US-Autos sind gut.
Die Straßenlage ist ebenfalls gut. Bei 180 km/h ist der Wagen völlig spursicher, obwohl kaum je ein Amerikaner diese Geschwindigkeit damit fahren wird. Wir würden es ebenfalls nicht auf die Dauer tun, und zwar aus dem gefühlsmäßigen Eindruck heraus, dass dieser Wagen nicht – wie viele europäische Wagen – dafür da ist, ständig an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit beansprucht zu werden. Das empfindet man auch beim Kurvenfahren: selbst auf nassen Straßen kann man sehr schnell sein (die Goodrich-Reifen des Testwagens waren bei Nässe und hohen Geschwindigkeiten hervorragend), das Kurvenverhalten ist neutral, bis im Extremfall Übersteuern eintritt. Aber es fällt sehr schwer, überhaupt an die Grenze heranzugehen, weil man in der Lenkung nicht das geringste Fahrbahngefühl hat und keinerlei Anreiz verspürt, wie etwa mit einem europäischen Sportwagen im Powerslide um die Ecken zu fahren. Verhaltenes Tempo passt besser zu diesem Auto als forciertes – braucht man doch nur, wenn es geradeaus geht, ein bisschen mehr auf das Gaspedal zu treten, um leise und weich mit imposanter Beschleunigung davonzuziehen.
Ein Thunderbird ist eben kein Sportwagen – trotz den 10 Sekunden von 0 auf 100. Er macht Rollbewegungen um die Längsachse, wenn man ihn schnell durch Schlängelkurven fährt; die Straße wird bedenklich schmal, wenn man im Rallye-Stil Pässe absolvieren will; er wird an der (starren, an Längsblattfedern aufgehängten) Hinterachse unruhig, wenn man es auf schlechten Straßen eilig hat. Alles dies kann er nicht- an manchen Stellen würde man ihm mit einem VW davonfahren können. Aber alles dies will er auch gar nicht, er ist ein schöner, großer, schneller Wagen für schöne, große, schnelle Straßen.
Für das Seelenleben
Warum ein solches Auto so groß sein muss, das wissen am besten die Leute, die sich damit beschäftigen, das innerste Seelenleben der Amerikaner zu erforschen. Die starken Motoren baut man, weil der dichte Verkehr Beweglichkeit verlangt – aber wohl auch, weil sie das Gefühl einer Überlegenheit geben, die man zwar selten ausspielen kann, die zur Verfügung zu haben jedoch den eingezwängten Massenmenschen zutiefst erfreut. Ähnlich wird es mit der räumlichen Größe sein: die Straßen sind voll, die Parkplätze sind klein; da soll doch das Auto wenigstens das Gefühl eines Raumes vermitteln, den man als sein eigen betrachten kann – trotz aller Enge ringsum, trotz Zeitnot und geschäftlichem Ärger. Selbst die Form scheint nach psychoanalytischen Erkenntnissen "gestylt" zu sein – sie ist mehr monumental als schön.
Der Thunderbird ist eigentlich ein Coupé, ein Zweisitzer mit Fondsitzen, aber er bietet dennoch das Gefühl verschwenderischer Raumfülle. Auf der gleichen Sitzbreite könnte man vorn vier Personen unterbringen – aber sie wird von zwei bequemen Sesseln mit einem breiten Mittelsteg ausgefüllt, der nicht nur den Kardantunnel verdeckt, sondern auch Handschuhkasten, Aschenbecher und Heizungsregulierung enthält. Ein Armaturenbrett ist nicht vorhanden – es sei denn, man wollte die zwei elegant geschwungenen Polsterwülste vor Fahrer und Beifahrer so bezeichnen. Die drei runden Instrumente kommen säulenartig aus dem Hintergrund: der Eindruck einer mehr futuristischen als sachlichen Flugzeugkanzel ist perfekt. Mit elektrischen Fensterhebern kann der Fahrer sämtliche Fenster öffnen und schließen, und wenn er den Wählhebel auf Parkstellung schiebt und aussteigt, dann gleitet unter dem Druck seiner Hand das Lenkrad nach rechts und gibt den Einstieg frei (ein Gag, der nur auf Extrawunsch geliefert wird). Die Fahrstellungen des Wählhebels können nur eingerückt werden, wenn das Lenkrad wieder in seine normale Stellung gebracht wird.
Es sind drei Möglichkeiten für Vorwärtsfahrt vorhanden: eine benzinsparende für Stadtfahrt (nur II. und III. Gang), eine für schnelleres Fahren (alle drei Gänge), eine für Bergfahrt (Low), in der der I. Gang eingeschaltet bleibt und die Bremskraft des Motors ausgenützt werden kann; das ist nämlich sonst nur in geringem Maße möglich, weil das Getriebe beim Gaswegnehmen in den großen Gang schaltet. Die Feststellbremse wird mit dem Fuß arretiert und gelöst, ein großes Blinksignal weist auf sie hin. Im Gegensatz zu allem andern war der Zug zum Öffnen der Motorhaube nur mit Gewalt zu bewegen. Die Heizung wirkte hervorragend und wurde schnell warm – natürlich hat der Motor eine Warmlaufautomatik. Deren erhöhte Drehzahl bewirkt, dass nach dem Kaltstart der Wagen mehr zum "Kriechen" im Leerlauf neigt als bei warmem Motor – ein Nachteil, mit dem sich die Amerikaner längst abgefunden haben: sie bleiben gewohnheitsmäßig mit dem Fuß auf der Bremse, solange der Wagen stehen soll.
Europas Fahrer werden sich mit dergleichen vorläufig nicht befassen können. Nicht nur, weil die Garagen zu klein sind für die schwellenden Formen (man kommt vielleicht hinein, aber nicht aus dem Auto heraus, denn die gut 15 cm dicke Tür muss ziemlich weit geöffnet werden, um einer bundesdeutschen Figur Durchlass zu gewähren), sondern auch, weil Verbrauch und Festkosten eines Thunderbird zu unseren Gegebenheiten in keinem ganz realen Verhältnis mehr stehen. Man muss nicht unbedingt 25 Liter brauchen – aber wenn man unter 20 bleiben will, ist schon eine ziemlich zurückhaltende Fahrweise nötig. Es ist ein Auto für Leute, die nicht auf den Liter sehen. Die Ford Werke in Köln importieren denn auch nur bescheidene Stückzahlen, es ist für sie so eine Art Prestige-Liebhaberei. Respekt muss man jedoch auf jeden Fall haben vor diesem Auto – weniger vor seinem Äußeren, als vor dem verschwenderischen Gebrauch technischer Mittel, den es repräsentiert. "Nur" ein Serienwagen für das große Amerika – für das kleine Europa auch heute noch ein Traumwagen.