Mercedes Strich-Acht trifft die neue E-Klasse
Fixsterne am Autohimmel
Mit dem Strich-Acht kam Mercedes 1968 endgültig in der Mitte der Gesellschaft an. Bis heute hält die E-Klasse dieses Erbe und den Stern in der oberen Mittelklasse hoch.
05.08.2016 Bernd StegemannWir wollen hier nicht viel Aufhebens um einen Buchstaben machen, der nur einer von 26 in unserem Alphabet ist. Der fünfte, um genau zu sein, und mit einem durchschnittlichen Anteil von 17,39 Prozent zugleich der häufigste in deutschen Texten. Bei Mercedes stellt er sogar drei Achtel des Markennamens und seit dem 220 SE von 1958 einen Teil der Typbezeichnung. Denn ein so fortschrittliches Teil wie der Einspritzmotor ist den hohen Herren in Untertürkheim schon eine Extra-Letter am Heck wert.
Mercedes Strich-Acht hat mit Sport nix am Hut
Seit diese Technik Standard ist und keiner Erwähnung mehr bedarf, tragen alle Mercedes der gehobenen Mittelklasse das E als Baureihencode. Doch als es 1972 erstmals am Viertürer der Baureihe W 114 auftaucht, ist das eine starke Ansage. Oder längst überfällig, weil BMW bereits ein Jahr zuvor den 3.0 Si mit Benzineinspritzung und 200 PS an den Start gebracht hat. Der gilt damals als Sportlimousine schlechthin, und der 185 PS starke 280 E katapultiert Mercedes-Fahrer nun auf Rufweite an den bayrischen Rivalen und in Regionen, die früher der S-Klasse vorbehalten waren.
Mit Sport hat der berückend kompakte, übersichtliche Viertürer allerdings rein gar nichts im Sinn, obwohl er die 100-km/h-Marke in unter zehn Sekunden sowie maximal Tempo 200 schafft. Während sich gut motorisierte Ford oder Opel damals gern mit Tieferlegung, Rallye-Streifen und mattschwarzer Motorhaube schmücken, gibt es im seriösen Strich-Acht nicht mal einen Drehzahlmesser. Bis auf die erweiterte Tachoskala und die feine Holzleiste unterscheidet sich das Interieur kaum von dem eines Basis-200, der nur die Hälfte leistet und ein Drittel weniger kostet.
Sonorer Klang, aber wenig Biss
Wer heute auf dem knautschigen, seitenhaltfreien Federkern-Fahrersitz Platz nimmt, erlebt echtes 60er-Jahre- und einen Hauch von Herrenfahrer-Flair – mit Ausstellfenstern vorn, Schmetterlingswischern und dem Blick über die von eckigen Kotflügeln flankierte Motorhaube. Beim Start meldet sich der 2,8-Liter-Sechszylinder mit sonorem Klang, aber ohne rechten Biss zum Dienst. Man muss erst den Widerstand des Gaspedals und die Scheu vor hohen Drehzahlen überwinden, um den 1,5-Tonner in Schwung zu bringen. Und dabei fleißig zur hakeligen Viergangschaltung greifen, weil sich der Erstbesitzer die 1.443 Mark für die Automatik sparte.
Die 571,65 Mark für die Servolenkung ebenso, denn selbst beim 20.535 Mark teuren Topmodell wurde dafür 1972 extra kassiert. Doch außer beim Rangieren wiegt der Verzicht nicht allzu schwer, zumal die indirektere Übersetzung und das riesige Bakelit-Lenkrad den Kraftaufwand in Grenzen halten. Ansonsten gehört das relativ präzise und überraschend komfortable Fahrwerk mit spur- und sturzkonstanter Schräglenker-Hinterachse schon klar zur Moderne, wenngleich es nach heutigen Maßstäben unterdämpft wirkt.
Die Tradition der Innovation
Sogar mit der 2.261 Euro teuren Luftfederung schwebt auch die jüngste E-Klasse nicht viel geschmeidiger über Holperpisten hinweg, und vom beachtlichen Plus an Radstand und Länge kommt bei den Passagieren nur wenig an. Zudem fiel die frühere Übersichtlichkeit nach außen dem Diktat der Aerodynamik zum Opfer, die im Inneren der Flut neuer Funktionen. Schließlich wollen neben Standards wie Licht oder Blinker auch noch Infotainment, Telefon und Assistenzsysteme bedient werden – mit allen erdenklichen Finessen, aber am besten total einfach.
Im Großen und Ganzen ist das auch gelungen, und in puncto Sicherheit, Fahrdynamik oder Antriebskomfort kreist der gute Stern von heute ohnehin in einer anderen Galaxie als 1972. Einen Bremsweg von 35,9 Metern aus 100 km/h oder Motoren über 500 PS hätten 280-E-Fahrer ebenso ins Reich der Fabel verwiesen wie einen Vierzylinder-Diesel, der zwar mehr Leistung als ihr schöner Reihensechser hat, aber nicht mal ein Drittel von dessen Kraftstoffbedarf verbrennt. Denn die wichtigste der vielen Traditionen bei Mercedes ist die der Innovation, mit der die Marke die Entwicklung des Automobils kontinuierlich und nachhaltig prägte.
Obwohl nicht mal eine Klemme oder der Stern vom 1953er-Ponton-Urahn überlebten, lässt sich in jedem Nachfolger dieses ganz spezielle Verständnis vom Autobauen aufspüren. Form und Technik mögen kommen und gehen, doch die Idee vom Qualitätsauto für breite Schichten bleibt.