Das erste moderne Auto: Mercedes Simplex
So urtümlich fährt das erste moderne Automobil
Mercedes gibt es seit dem 2. April 1900. Das erste Auto der Marke war der Simplex, der als erstes modernes Automobil gilt. Wie fährt sich der über 100-Jährige heute?
05.04.2020 Luca LeichtEmil Jellinek, österreichischer Geschäftsmann und Vater einer Tochter, handelte mit Autos von Daimler und meldete sie zu Rennen an. Dass die Tochter Mercedes hieß – und nicht etwa Klothilde – führt dazu, dass wir heute nicht von einem Klothilde S500 sprechen, sondern von einem Mercedes S500. Am 2. April 1902 beschloss die Daimler Motoren Gesellschaft, künftig alle Autos nach der damals elf Jahre alten Tochter ihres Kunden Mercedes zu nennen. Das gilt bis heute. Der Stern kam erst später – 1926, als Daimler und Benz fusionierten. Doch wie war das früher, als bei den ersten Autos Mercedes am Kühler stand? Damals noch in Messing und Schreibschrift? Wir fuhren eienn Simplex von 1904, der außerdem als das erste moderne Automobil der Welt gilt.
Der erste Mercedes, das erste moderne Auto
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägten die Simplex-Modelle die Anfänge der Marke Mercedes und setzten einen Meilenstein im Automobilbau. Eines der ältesten Modelle, ein 40 PS von 1902, steht heute im Mercedes-Museum. Im Jahr 1902 wurde der Markenname auch eingetragen. Eine Ausfahrt mit dem 32-PS-Modell aus dem Mittelfeld der Mercedes-Typenpalette von 1904 zeigt, wie fortschrittlich der Simplex damals war.
Einsteigen, losfahren? Nicht mit dem Simplex
Einsteigen, Startknopf drücken, losfahren. Viel mehr braucht es heute bei den meisten modernen Autos nicht, und die Fahrt kann beginnen. Anfang des 20. Jahrhunderts sah die Sache allerdings noch ganz anders aus. "Allein das Anlassen eines Automobils konnte mehrere Stunden dauern. Denn damit der Wagen auch wirklich ansprang, musste alles stimmen – von den Zündeinstellungen und der Gemischaufbereitung bis hin zur Außentemperatur und der Luftfeuchtigkeit", erklärt Michael Plag, Projektleiter in der Werkstatt von Mercedes-Benz Classic in Fellbach, während er uns vorbei an alten Silberpfeilkarosserien durch die Mercedes-eigene Oldtimer-Restaurierungswerkstatt schleust.
Am Ziel angekommen, erwartet uns ein fast 120 Jahre altes Stück Automobilgeschichte und der Blick auf ein regennasses Fenster. "Es hat zum Glück schon aufgehört; trotzdem nicht die besten Voraussetzungen. Bis jetzt haben wir den Simplex aber immer zum Laufen gebracht." Doch bevor die Zeitreise mit dem Mercedes-Simplex 28/32PS Doppelphaeton beginnen kann, heißt es erst einmal pumpen und abwarten.
Eins plus fünf lautet die Faustregel für den Start des Riesen aus dem Jahr 1904. Das bedeutet eine Minute von Hand pumpen, bis der Manometer bei rund 0,2 bar ausreichend Druck im System anzeigt. Dann fünf Minuten warten, bis das Öl von den unteren Haupthähnen durch die zehn Schaugläschen im Cockpit vorbei an den Regulierungsschräubchen bis zum eigentlichen Bestimmungsort tröpfelt. Damit während der Fahrt nicht unaufhörlich weitergepumpt werden muss, wird, sobald der Motor läuft, Abgas aus dem vierten Zylinder über einen Nebenraum der Brennkammer abgeleitet und durch einen Grobfilter zu einem Pulsator geschleust. Der regelt den Druck dann mechanisch über ein federbelastetes Flachsitzventil auf 0,2 bar herunter – und falls der Druck doch einmal nachlässt, muss der Beifahrer unterwegs eben doch wieder an die Pumpe.
Der Start dauert vier Stunden
Spätestens hier wird klar: Trotz aller Simplexität, eben mal irgendwo hinfahren gab es damals nicht. Jede Spritztour wollte von langer Hand geplant werden. "Wenn der Herr morgens um neun Uhr mit dem Auto fahren wollte, begann der Arbeitstag für die Bediensteten bereits um fünf Uhr damit, Wasser zu kochen, um den Motor aufzuwärmen", berichtet Plag und streicht über den patinierten Lack des 4,25 Meter langen Doppelphaetons. "Früher standen die Autos draußen in ehemaligen Pferdeställen in der Kälte. Damit das Kühlwasser nicht friert, wurde es insbesondere im Winter über Nacht abgelassen und am Morgen frisch nachgefüllt." Heute steht der Simplex in einer wohltemperierten Halle und wartet nach vier langen Jahren Standzeit darauf, wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben.
Endlich: anlassen. Von Hand
Also den Benzinhahn auf, den Kolbenvergaser fluten, am Lenkrad die Zündverstellung auf "spät" stellen, die Gemischaufbereitung justieren und anlassen – oder besser ankurbeln. Einen Elektrostarter sucht man beim Simplex nämlich ebenso vergebens wie ein Zündschloss oder eine Benzinpumpe. "Voller Körpereinsatz ist gefragt", feuert Plag an. "Die Kurbel vorn unter dem Wabengrill mit der rechten Hand fest umschließen, einen sicheren Stand suchen, mit der linken am Rahmen festhalten und kurbeln." Eigentlich gar nicht so schwierig, wäre da nicht das rund 70 Kilo schwere Schwungrad, das mitbewegt werden will, und die zaghafte Niederspannungs-Magnet-Abreißzündung, die bei geringen Umdrehungen kaum ihre Funken sprühen lässt. Ein paar Minuten und eine Handvoll Huster des Reihenvierers später gehen die Kräfte langsam zur Neige. "Wechsel!", ruft Plag und legt selbst Hand an. Doch auch für den Fachmann hat der Koloss nicht viel mehr als ein paar Huster und etwas Ruß aus dem langen Auspuffrohr übrig. "Das Wetter heute ist wirklich nicht ideal. Ich schlage vor, wir versuchen es mit Anschieben. Das hat bisher immer geklappt." Und siehe da, schon nach 15 Metern und dem Einsatz von vier Kollegen aus der Werkstatt erwacht der Reihenvierer doch noch zum Leben und hüllt die Starthelfer unter einem stolprigen Stakkato zum Dank in eine dicke Rauchwolke.
Unverändert seit über 110 Jahren
Sobald die Zündung richtig eingestellt ist, beruhigt sich der Lauf des Motors, und wir lauschen dem Ruhepuls bei rund 300/min. Man glaubt jeden Funken der Abreißzündung zu spüren, jedes Öffnen und Schließen der Ventile zu fühlen, jede Umdrehung der zwei seitlich angebrachten Nockenwellen wahrzunehmen und jeden Tropfen Öl zu hören, den die Schöpfer der Löffelschmierung nach oben werfen. So mechanisch, so imposant, so eindrücklich stampft das Auf und Ab der vier Kolben – und das seit über 110 Jahren.
"An der Technik haben wir nichts verändert. Auch nicht an der Federbandkupplung, die zugegebenermaßen ihre Schwächen hat", meint Plag. "Heutiger Stadtverkehr wäre mit ihr undenkbar." Zu materialintensiv wäre das viele Anfahren. Da helfe nicht einmal die Ölschmierung, denn die Feder, die auf einer Welle im Inneren einer Trommel gespannt ist, würde durch die hohe Beanspruchung schlicht zu heiß werden und irgendwann nur noch durchrutschen.
Gar nicht einfach: Fahren mit dem Simplex
Jetzt folgt der leichte Teil: das Fahren. Zumindest meint das zu diesem Zeitpunkt noch der Autor dieser Zeilen, der in einer Zeit geboren wurde, in der man sich die Funktionsweise eines Zweitaktmotors zuerst auf Wikipedia vergegenwärtigt, bevor man ihn das erste Mal in natura zu Gesicht bekommt – und liegt weit daneben. Angefangen bei der Pedalerie. Denn statt der gewohnten zwei oder drei Pedale ragen gleich fünf von unten in den offenen Fußraum. Kupplung, Gas, zweimal Bremse, die jeweils die Getriebeeingangs- und -ausgangswelle entschleunigt, und das kleine ganz links betätigt eine Klappe, die direkt hinter dem Krümmer angebracht ist. In geöffnetem Zustand nimmt sie dem Motorenklang auch das letzte geräuschreduzierende Element, verursacht einen Heidenlärm und malt allen Umstehenden ein Grinsen ins Gesicht. "Eigentlich ist die Klappe gedacht, um die Zündung zu überprüfen oder ob der Motor sauber auf allen vier Zylindern läuft", erklärt Plag. "Früher, als auf den Straßen, die eigentlich nur bessere Feldwege waren, noch allerlei Vieh unterwegs war, wurde sie aber sicher auch zum Verjagen der Tiere genutzt", ist sich der Simplex-Experte sicher und demonstriert ihre Funktion.
Vorsicht beim Kuppeln
Nachdem die Pedalreihenfolge verinnerlicht ist, geht es los. "Nur nicht lange schleifen lassen oder auf der Kupplung stehen bleiben", mahnt Plag links vom Beifahrersitz. "Das ist Gift für das Material." Und siehe da, der 1,7 Tonnen schwere Klassiker rollt allmählich los, und wir bewegen uns gemütlich stadtauswärts. Es ist erstaunlich, wie gut sich der Wagen trotz des kleinen hölzernen Lenkrads steuern lässt – zumindest solange großen Holzspeichenräder in Bewegung sind.
Die Landstraße liegt vor uns, und es geht ans Schalten. Ein synchronisiertes Getriebe? Fehlanzeige. "Kupplung, Gang raus, runter von der Kupplung, dann wieder Gas", dirigiert Plag jede Bewegung. "Dann wieder auf die Kupplung, den nächsten Gang rein, zügig kommen lassen und wieder Gas geben." Zweiter Gang. Wieder Kupplung, Gang raus, Kupplung, Gas. Dann in den dritten. Immerhin, die vier Gänge werden schon über eine konventionelle H-Kulisse angesteuert.
Höchstgeschwindigkeit bei Tempo 60
Im letzten angekommen zieht das Asphaltband bei rund 50 km/h unter uns vorbei. Noch nie fühlte sich Stadttempo so schnell und berauschend an. Seine Höchstgeschwindigkeit erreicht der 32-PS-Simplex bei rund 60 km/h. Kaum vorstellbar, dass Herrenfahrer Willie K. Vanderbilt mit einem der 40-PS-Modelle 111 km/h erreichte – damals Rekord für ein Serienauto.