Mercedes E280 V6 W210 (1997) Unvernünftiger Kauf
200 PS für 900 Euro!
Lange zögerte Alf, jetzt kauft er einen W210 zum Schnäppchenpreis. Natürlich braucht der E280 etwas Liebe und Alf etwas Anlauf, den V6 gut zu finden.
27.10.2020 Alf CremersLange habe ich gebraucht, bis ich nun endlich reif bin für einen Zweihundertzehner. Soeben bin ich angekommen in meinem vollausgestatteten Mercedes E 280 Avantgarde, und ein Gefühl leisen Glücks stellt sich mit der Hand am Wählhebel ein, vorher war es ein Aufatmen. So als hätte ich etwas erfüllt, was andere von mir erwarten.
Sechs 210er hätte Alf fast gekauft
Der Kauf ist nur noch eine Formsache, die roten Nummern stecken schon dran. Nach sechs Beinahekäufen, vom alltäglichen E230 über einen E-320-Reihensechszylinder bis zum E420 mit V8-Motor, dachte ich schon, das wird nichts mehr mit uns. Sogar ein gemeiner C180 Esprit in Rubinrot schaffte es noch vor dem Zweizehner, weil er eben kein Vieraugengesicht hat.
Seine Vorgänger machten es mir viel leichter. 1990, fünf Jahre nach Produktionsende, kaufte ich meinen ersten Hundertdreiundzwanziger, einen astralsilbernen 250. 2002, sieben Jahre nach Auslauf, feierte der W124 sein Debüt in meiner Garage als 260E Automatik in Impala-Metallic. Die halbe Ewigkeit von 18 Jahren brauchte nun die E-Klasse mit dem Vieraugengesicht, um in meinem Herzen anzukommen. Warum nur?
Schrieb ich doch bereits 2011, dass es zwölf Gründe gibt, ihn, den nächsten, also den W 210, zu lieben. Es geschah am Beispiel des besagten E420, der zwar rostig war, sich aber grandios fuhr. Ein frühes Exemplar von 1996, noch mit vier Nockenwellen und 32 Ventilen, ein E500 für Arme. Ich hätte ihn kaufen sollen, für lumpige 1.900 Euro, das 210er-Trauma wäre mir durch frühe Therapie und dank der hohen Dosis von acht Zylindern und 279 PS erspart geblieben. Jetzt sind es sechs in V-Form und nur 204 PS, der Wagen ist genauso rostig, aber Avantgarde statt Elegance und nur halb so teuer. Liebe auf den ersten Blick war es auch bei diesem E280 nicht. Schon bei unserer ersten Begegnung im Februar war ich von seinen Fahreigenschaften sehr angetan. Nachdem sich der Preis über die Monate auf 990 Euro halbiert hatte, fasste ich mir ein Herz. "Morgen fahre ich hin und blättere dem Händler 900 Euro in 18 Scheinen auf den Tisch", redete ich mir entschlossen ein.
Denn der Markt ist schwierig geworden für schlechte Autos. Dieses hat zwar erst schlappe 156.754 km auf dem LCD-Tachodisplay, aber es ist 23 Jahre alt. Der Rost ist bei dem dunklen Lack, die Farbe heißt Violan-Metallic und ist der noblen Avantgarde-Reihe vorbehalten, kaum zu sehen. Aber es gibt ihn, unter der Kühlermaske, am Kotflügel vorne rechts, an den hinteren Radläufen und natürlich an der Unterseite der Kofferraumklappe, alles eben typisch W 210.
Violan-Metallic hat tatsächlich einen halluzinogenen violetten Schimmer, aber nur, wenn, wie am heutigen Sommertag, die Sonne kräftig strahlt. Ich mag diesen mondänen Farbton jenseits des brillantsilbernen Mercedes-Klischees. Er passt wunderbar zu den blau getönten Scheiben der Avantgarde-Linie, die eher psychedelisch wirken als klassisch, Lancia hat sie erfunden.
Biografie in der Bordmappe
Der E280 springt auch ohne Fremdstarten sofort an und läuft rund. Vorher habe ich die Flüssigkeiten kontrolliert, einen halben Liter Motoröl nachgefüllt und den Ausgleichsbehälter für die Kühlflüssigkeit unter die Lupe genommen. Alles so weit in Ordnung, noch studiere ich das Wartungsheft aus der kompletten Bordmappe, die im Handschuhfach war.
Bei 150.000 km erfolgte die letzte Ölwechsel-Notiz einer freien Werkstatt. Drei Vorbesitzer haben sich akkurat im Prolog des länglichen Heftchens eingetragen. Ich erfahre von der Erstauslieferung an eine Frau bei der Stern-Vertretung Peter Praunsmändtl in Neuburg im November 1997. Die Datenkarte erzählt mir von seiner Entstehung und seinen Sonderausstattungen. Heute Abend werde ich den Neupreis ausrechnen und auf stolze 80.144,14 Mark kommen.
Zufrieden streicht meine rechte Hand über den Beifahrersitz, das verspielte Muster Tiffany gefällt mir. Der Zustand des Interieurs ist bestechend, das düster wirkende Vogelaugenahorn kennt keine Risse, die Wange vom Fahrersitz blieb heil. Das Gefühl leisen Glücks stellt sich ein. Die Hand führt den Wählhebel auf D. Sachte setzt sich der Wagen in Bewegung, der Kies knirscht unter den Reifen, vorbei geht es an einer Phalanx alter Benze von W140 bis SLK. Vorne am Container steige ich aus, tausche die 18 Scheine langsam zählend gegen Brief und Schein. Der Händler stimmt nickend zu, wundert sich über meine ausgelassene Freunde am billigen Wagen.
Sie wird den ganzen Tag über anhalten, weil dieser Zweizehner es fertigbringt mich umzudrehen: Ich finde ihn schön, die Proportionen sind ausgewogen, die glatten Flanken, die bauchigen Vorderkotflügel, die vier ovalen Scheinwerfer. In ihrem Zusammenspiel erkenne ich gar eine gewisse Grazie. Mit der Hochdrucklanze komme ich ihm in der Waschbox näher, blicke durch die Gischt in sein Vieraugengesicht, die Sonne färbt es regenbogenfarben. Rosarot ist auch dabei, es legt sich vor meine Brille.
Beim Staubsaugen – es ist bei dem gepflegten E280 gar nicht nötig, wird nur zum rituellen Akt des Besitzerwechsels – finde ich Stoff Tiffany auf einmal besser als Leder Schwarz. Die Kopfstützen im Fond lasse ich aufgestellt, das verleiht meinem "neuen" Benz die Würde einer S-Klasse, das innere Format eines 126ers hat der Zweizehner ja schon, hinten ist er sogar geräumiger. Stilistisch ist die S-Klasse nicht zu übertreffen, deren selbstverständliche Eleganz erreicht der W210 dann doch nicht, wenn der Regenbogen-Schleier verfliegt. Auch Mercedes-Design muss sich weiterentwickeln. Verglichen mit heutigen Modellen, verwandelt sich mein E280 in eine klassische Autoschönheit. Und das liegt nicht etwa am intensiv duftenden Wunderbaum "Black Ice".
Der erste Tag im E280 fesselt mich ans Lenkrad, ich suche das Weite mit vollem Tank, bewege mich auf Landstraßen zweiter Ordnung um das Dreieck Augsburg-Ingolstadt-Ulm. Nur einmal, auf einem Parkplatz an der B10, lasse ich mich hinreißen, auszusteigen, meine frisch gewaschene Neuerwerbung auf mich wirken zu lassen und das hässlich abblätternde Violan unter der Kühlermaske zu entfernen und schwarzmatt zu übersprühen. Es geht wieder weiter, die Temperatur bleibt unauffällig, den Öldruckmesser gibt es beim W 210 leider nicht mehr. Dennoch signalisiert der seltsam konstruierte 90-Grad-V6 mit Doppelzündung großes Wohlbefinden.
Früh schaltet die Fünfgang-Automatik hoch, das Drehzahlniveau ist niedrig, der bullige Achtzehn-Ventiler harmoniert bestens mit ihr. Nicht nur dem Wagen, der dank des vertrauten, kaum veränderten Mercedes-Ambiente große Geborgenheit vermittelt, gelingt es mich umzudrehen. Selbst dieser kuriose Leichtmetall-Motor mit Ausgleichswelle schafft dies.
Der V6 ist keine zweite Wahl
Mir war der Vorgänger M104 stets lieber, mehr Mercedes-like, eine Konstruktion ohne Kompromisse. Alles oder nichts. Richtig aufwendig gebaut, sechs Zylinder in Reihe, Einlass- und Auslassventile haben separate Nockenwellen, die Ventilbetätigung erfolgt direkt über Tassenstößel.Ein scheinbarer Rückschritt dagegen der V6, nur eine Nockenwelle pro Bank und auch dadurch optisch weit weniger imposant, mit Doppelzündung gedopt. Ein Wunder, dass er auch noch elf PS mehr leistet als der Reihenmotor.
Ich gebe zu, dass ich beim Fahren keinen Unterschied feststelle, weder in der Laufkultur noch in der Leistungsentfaltung. Kein Mensch glaubt mir, dass der V6 dem DOHC-Motor ebenbürtig ist, beide lassen sie keine Wünsche offen. Es macht Freude, wie mein E280 durch die Landschaft gleitet, in der Fahrkultur ist ein großer Fortschritt zum W 124 spürbar, auch wenn Dämpferbein- und Raumlenkerachse gleich blieben. 18 Jahre habe ich fürs Umsteigen gebraucht, jetzt gilt es, das Versäumte nachzuholen.