Mercedes-Benz 630 K im Fahrbericht
Auf Tour mit dem Kompressor-Gigant
Gestern-Steuerung statt Gesten-Steuerung: Wir reisen im Mercedes-Benz 630 K in die Zeit, als Autofahren noch Abenteuer war. Da treffen wir auf Carl, Ferdinand und große Herausforderungen.
21.06.2016 Sebastian RenzKurz schweife ich ab, überlege, ob es philosophisch korrekter wäre zu sagen, man gestalte nicht die Zukunft, sondern die eigene Vergangenheit. Weil alles, was wir für die Zukunft erschaffen, sobald es da ist, ja schon zu dieser sich ständig vergrößernden Menge an unveränderbarer Vergangenheit wird. Aber dann kommt da die Kreuzung, holt mich zurück in die Gegenwart – insbesondere in die Gegenwärtigkeit dieser sturmerprobten, massiven Eiche gegenüber, während ich meine Füße auf die Pedale sortiere. Zu sortieren versuche. Wenn das nicht klappt, werde ich für immer der Mann sein, der einen 850.000 Euro teuren, aber eigentlich unbezahlbaren Mercedes-Benz von 1929 abgeholzt hat. Jetzt verstehen Sie, was ich meine, oder? Die Bremse. Wie war das noch mal?
Mercedes-Benz 630 K – vom Erfinder des Automobils
Es ist 1929. Damals entsteht dieser 630 K. Das Automobil als solches ist erst 43 Jahre alt, einer seiner Erfinder lebt noch: Carl Benz begleitet den Aufstieg seiner Schöpfung und den Fall seiner Benz & Cie., die am 28. Juni 1926 auf Drängen der Deutschen Bank mit ihrem größten Rivalen, der Daimler Motoren Gesellschaft, fusioniert. Für die Jüngeren: Das ist so, als hätte Steve Jobs erleben müssen, dass Apple mit Samsung zusammengeht.
In den 1920er-Jahren ist die Autoindustrie eine kleine Sparte und in der Krise. Gibt es 1924 immerhin 86 Autohersteller in Deutschland, sind es nur noch 17 im Jahr 1929. Damals entstehen weltweit 6,345 Millionen Autos (2014: 89,747 Millionen). Brennabor aus Brandenburg an der Havel ist lange der größte der deutschen Hersteller. Die bauen 1929 insgesamt 139.869 Autos (2014: 5,91 Millionen). In Deutschland rollen 422.812 Autos (heute 44,4 Millionen) über 300.000 km Straße, von denen 70 Prozent geschottert sind. Aber Zahlen sind nur Zahlen, wir wollen uns ein Gefühl für die Vergangenheit zurückkaufen. Auch wenn das 850.000 Euro kostet.
So vermerkt es das Preisschild neben dem 630 K, der es sich im Mercedes-Benz-Museum nett eingerichtet hat. Und doch sofort vom Fleck weg gekauft werden kann, wie Patrik Gottwick, Verkaufsberater beim Mercedes-eigenen Youngtimer- und Oldtimer-Handel All Time Stars, bekräftigt. Und beweist. Ich piddele gerade die Persenning vom Cockpit, um die Pedalanordnung zu checken (Mist!), als drei kräftige Herren antreten und das Auto nach draußen schieben.
Der Veyron der Zwanziger
Der 630 ist die im Radstand auf 3,40 Meter gekürzte Evo-Version des Mercedes 24/100/140 PS. Nachdem sich Chefentwickler Paul Daimler, ältestes der fünf Kinder von Firmengründer Gottlieb, mit der Daimler-Führung überwirft, übernimmt Ferdinand Porsche (der darf in dieser illustren Runde nicht fehlen) die Entwicklung. Das Urmodell feiert von 10. bis 18. Dezember 1924 auf der Berliner Automobilausstellung Premiere. Anfang 1926 reift es mit einem neuen, blattgefederten Fahrgestell zum 630. Ab Oktober 1928 gibt es den als K mit Kompressormotor. Mit diesen Modellen gewinnt Mercedes-Benz Grand-Prix-Rennen. Es sind Rennwagen für die Straße, ein 630 K kostet rund 27.000 Reichsmark – so viel wie sechs ganz hübsche Eigentumswohnungen. Ja, das entspricht heute dem Bugatti-Veyron-Territorium. So ein Auto startest du nicht einfach und fährst los.
Zuerst prüfen Michael Plag, Projektleiter in der Werkstatt von Mercedes-Benz Classic, und ich Reifendruck, Öl- und Wasserstand. Dann Zündung auf spät, Startknopf drücken (elektrischer Anlasser ab 1912 bei Cadillac) und ertauben, als der Motor losfeuert. Jede der sechs in Reihe aufragenden Zylinderhallen dieses Motormassivs misst 1.040 cm³. Bei 94 mm Bohrung ergibt sich ein Hub von 150 mm. 15 Zentimeter Kolbenhub – da durchschwingen Vibrationen das ganze Auto, an dessen Rahmen der Motor fix verschraubt ist.
Der 630, ruft mir Plag gegen das Wüten des Triebwerks zu, habe übrigens eine Tourer-Karosserie aus Sindelfingen. Sechs Karosserien bietet das Werk an, ein Jahr dauert es, den Wagen zu karosserieren. Alternativ können die Kunden ein Fahrgestell erwerben, um darauf etwa von Saoutchik, Hibbard & Darrin, Papler, Neuss oder Derham eine individuelle Karosserie errichten zu lassen.
Gas Mitte! Bremse rechts!
Als der Kühler oben so heiß ist, dass man sich fast die Finger verbrennt, ist der Wagen warm. Wir steigen ein, Plag setzt sich hinters Lenkrad, wie es sich gehört. Wird damals solch ein Mercedes ausgeliefert, schickt das Werk stets einen erfahrenen Meister dazu, den Kunden – na, eher seinen Chauffeur – über mehrere Tage oder Wochen gar in Fahrzeugtechnik, Wartungsregeln und Reparaturen einzuweisen. Vor allem aber lehrt er, wie man den 630 K fährt. Und da gibt es viel zu lernen. Plag fährt eine Stunde, in der ich versuche mir abzuschauen, wie alles funktioniert, und er den Wagen aus der Stadt bringt. Dann hält er am Ende eines Dorfes. Showtime.
Vor einigen Monaten durfte ich einen Mercedes 300 SL pilotieren. Aber, Freunde, im Vergleich zum 630 K fährt sich der Flügeltürer so leicht wie ein Nissan Micra. Der K hat ein unsynchronisiertes, gerade verzahntes Vierganggetriebe. Zuerst mag es beruhigen, dass Schalten damit kaum ohne Knirschen und Krachen abgehen kann. Aber bei Plag rasselte es nur sacht. Jetzt. Kupplung (die wenigstens sitzt wie heute: links). Etwas Gas, Gang sachte entschlossen verzahnen. Es knirscht entsetzlich, wenn du das Entschlossene zu schwach oder zu heftig dosierst. Handbremse los. Gas. Kupplung kommt. Wagen hoppelt los. Wir fahren! Sogar bald im zweiten Gang (Kuppeln, Zwischengas, Schalten, Kuppeln), und sogar dem dritten Gang. Dann gefällt sich die Straße darin, sich in eine Serpentine zu verwickeln.
Jessasmariaundjoseph: Bremsen (rechtes Pedal), Kuppeln, Gang raus, Schalthebel aus der rechten in die linke Gasse drücken, Zwischengas (Mitte), Gang rein, mehr Gas (Mitte), aber fester bremsen (rechts), Achtung, Motor sprotzelt, weil du den Fuß vom Gas (Mitte) zum Bremsen (rechts) genommen hast, mehr Gas (Mitte), Kupplung kommt. Mist, Gang ist nicht richtig drin, wieder Kuppeln, Zwischengas (Mitte, Renz, du Trottel), Gang richtig rein, Kupplung kommt und jetzt lenkenlenkenlenken, also eher zerrenzerrenzerren an diesem extrem schwergängigen Lenkrad und Gas (Mitte), Lenkrad schnell zurückzerren, damit sich die Lenkung nicht eindreht.
Mercedes-Benz 630K verlangt seinem Fahrer alles ab
Mehr Gas (Mitte), der K stampft mit der Wucht von 431 Nm bergan. Mit Tempo 40. Und du fragst dich, wie die das früher gemacht haben. Manfred von Brauchitsch trainierte für die Mille Miglia 40.000 km mit einem Kompressor-Mercedes – auf unasphaltierten italienischen Straßen. Einmal um die Welt mit so einem Auto – und heute fühlen wir uns ermattet, wenn die Heckklappe nicht elektrisch hochfährt.
Mit den Kilometern kommt, nein, keine Routine auf, aber so etwas wie eine beschränkte Fähigkeit, den 630 K zu fahren. Er federt erstaunlich umgänglich, man sitzt bequem drin. Aber das ist auch nötig bei einem Auto, das dem Fahrer so viel abverlangt. Auf einer langen Geraden raunt Plag mir vom Beifahreranteil der Sitzbank zu: „Jetzt mal Vollgas.“ (Mitte). Über das Gaspedal wird per Schubstange der Kompressor eingekuppelt und die beiden Flügel des Roots-Laders pressen Luft mit 0,41 bar in den Vergaser. Das wütende Schnauben des Motors wechselt in das hochfrequente Sirren einer großen, schweren, sehr zornigen Bohrmaschine. Sodann beschleunigt der 630 K im direkten, vierten Gang mit einer Vehemenz, die weder mit seinem Alter und Gewicht noch mit meinen Reflexen in Einklang zu bringen ist. Es ist berauschend. Ich schweife in Gedanken ab. Genau das kannst du dir beim 630 K nicht leisten. Gerade noch rechtzeitig vor Kreuzung und Eiche trete ich, so fest ich kann, aufs rechte Pedal. Die Seilzüge zu den vier Trommelbremsen straffen sich, der Wagen verlangsamt – für die Situation unangemessen gelassen, finde ich, aber rechtzeitig.
Eine halbe Stunde die Zukunft weiter hoch wird der 630 K wieder im Museum sein. Die Vergangenheit mit ihm begleitet mich nach Hause. Noch da riechen meine Kleider nach Benzin, Öl, Fahrtwind. Und Abenteuer.