Mercedes-Benz 300 SLR
Die Nummer 722 lebt!
Der 300 SLR zählt zu den berühmtesten Exponaten im Mercedes-Benz Museum. Ab und an darf er hinaus, wir sind ihn gefahren.
09.09.2016 Hans-Jörg GötzlAlle nennen ihn immer nur den 722, dabei heißt er mit bürgerlichem Namen ganz simpel Mercedes-Benz 300 SLR. Doch mit der Startnummer 722 auf Motorhaube und Seitenteilen der Leichtmetallkarosserie feierte dieser Rennsportwagen mit der Chassisnummer 4 einst seinen größten Erfolg: den Sieg bei der Mille Miglia 1955, nebenbei verbunden mit dem heute noch gültigen Streckenrekord.
Kenner wissen natürlich, dass 722 nichts anderes war als die individuelle Startzeit des Autos, die jedes Teilnehmerfahrzeug aufgepinselt bekam – Zuschauer und Streckenposten entlang der 1.606 Kilometer langen Strecke vom oberitalienischen Brescia nach Rom und zurück konnten so leicht ausrechnen, wer vorne lag. Am 30. April 1955 gab es da nie einen Zweifel: Der 300 SLR mit der Startzeit 7.22 Uhr fuhr in einer eigenen Dimension. Als er um 17.29 Uhr wieder durchs Ziel auf der Viale Venezia in Brescia donnerte, hatte er den Durchschnitt auf eine neue Rekordhöhe von 157,6 km/h gehoben – inklusive Pässe, Ortsdurchfahrten und gelegentlich geschlossenen Bahnschranken auf der nicht abgesperrten Strecke. Unvorstellbar.
Formel 1 im Sportwagenanzug
Seinen Teamkollegen Juan Manuel Fangio ließ der britische Fahrer Stirling Moss dabei eine halbe Stunde hinter sich. Der schärfste Konkurrent, die Ferrari-Werksmannschaft, hatte sich bereits auf dem Weg nach Rom selbst eliminiert. Sie hätte ohnehin nie eine Chance gehabt.Man muss zunächst in die For- mel 1 der 50er-Jahre schauen, um die Faszination 300 SLR wirklich zu begreifen. 1954 war Mercedes-Benz wieder in die Königsklasse eingestiegen und das wie schon vor dem Krieg mit einem technischen Overkill: Den W 196 R genannten Monoposto befeuerte ein aus zwei gekoppelten Vierzylinderblöcken bestehender Reihenachtzylinder mit Direkteinspritzung und desmodromischer Ventilsteuerung, der bis zu 290 PS aus 2,5 Litern Hubraum holte. Damit gewann Mercedes neun von zwölf Grands Prix, Fangio wurde 1954 und 1955 Weltmeister.
Der 300 SLR wiederum, internes Kürzel W 196 S, ist nichts anderes als ein Formel 1 mit auf drei Liter aufgebohrtem Motor, gut 300 PS und Sportwagenkarosserie. Und Fangio mag von den beiden Ausnahmetalenten der bessere Formel-1-Pilot gewesen sein – Moss war ganz sicher der bessere Sportwagenfahrer. Kein Wunder also, dass der 86-jährige Brite immer einen warmen Schimmer in den Augen bekommt, wenn er seinen 722 sieht. „Er ist der beste Sportwagen der Welt, er ist einzigartig, und ich freue mich immer, ihn zu fahren“, sagt er. Zuletzt geschah dies im vergangenen Jahr, unter anderem in Brescia, wo Moss und der 300 SLR das 60. Jubiläum ihres gemeinsamen Sieges feierten.
Mercedes-Benz 300 SLR – das fahrende Exponant
Davor allerdings stand der originale Siegerwagen rund zehn Jahre in der Steilkurve im Mercedes-Benz-Museum, sodass für den Einsatz einige Arbeiten notwendig waren. Das wiederum ist Aufgabe der Werkstatt von Mercedes-Benz Classic in Fellbach, deren Mechaniker zum Teil über jahrzehntelange Erfahrung mit den Silberpfeilen und deren hochkarätiger Technik verfügen.
„Der nächste Einsatz beginnt im Grunde immer mit dem Ende des vorherigen und gründlicher Nachbereitung“, erklärt Gert Straub, Projektleiter bei Mercedes-Benz Classic. „Das Wichtigste beim 300 SLR ist daher, nach einem Einsatz die Kraftstoffanlage mit einer Kraftstoff-Öl-Mischung zu spülen, weil sonst die Einspritzpumpe und die Düsen verharzen können.“ Bei guter Nachbereitung, so Straub, beschränkten sich die Arbeiten für die nächste Fahrt auf einen großen Kundendienst: Kontrolle auf Standschäden, Abschmieren der rund 20 Schmierstellen, neue Silikon-Bremsflüssigkeit und Bremskraftverstärker-Flüssigkeit, alle fünf Jahre neue Reifen. Der Achtzylinder und das Fünfganggetriebe besitzen einen gemeinsamen Schmierstoffhaushalt, der mit 20 bis 25 Liter frischem Rizinusöl B353 befüllt wird. „Dann drehen wir den Motor per Anlasser mehrfach durch, um Öl an den Schmierstellen zu haben – erst dann kommen die Zündkerzen rein und er wird befeuert“, erläutert Straub.
Danach geht es zur Probefahrt über 30 bis 50 Kilometer auf der Einfahrbahn hinter dem Museum, dann ist das Lieblingsauto von Stirling Moss startklar. Dieser rutscht auch im hohen Alter noch elegant in den Fahrersitz und bedient ganz selbstverständlich alle Hebel und Schalter. „Dieses Lenkrad“, sagt er und deutet auf das filigrane Steuer aus Weymouth-Kiefer: „Ich wollte damals unbedingt eines mit drei Speichen und war vollkommen fassungslos, als die Mechaniker mir einfach eins eingebaut haben – das ist eben Mercedes.“ Auch das Lenkrad fasst der alte Kämpe noch genau so an wie 1955, nur mit den Fingerspitzen – und er gibt noch gerne kräftig Gas: „Kein anderer Motor klingt so böse wie der im 300 SLR!“