Mercedes 600 Landaulet im Test
Exklusiv-Variante der 1960er-Staatskarosse
Doch, wir sind immer noch überwältigt, dass uns Mercedes wirklich dieses Auto für unsere Reihe „Der Alte im Test“ gegeben hat. Meine Damen und Herren: der Mercedes 600 Pullman Landaulet.
13.03.2018 Sebastian RenzAll diese Geschichten von Märchenköniginnen verschweigen ja das mit den kalten Büfetts. Stets nur liest man von Zofentratsch, kleinen Intrigen am Hof, feschen Prinzen oder dem Auswählen des Abendkleids nach dem Ausritt. Aber es ist Arbeit, Märchenkönigin zu sein. Das zeigt das Programm des Staatsbesuchs der damals 39-jährigen Elizabeth Alexandra Mary Windsor, von Gottes Gnaden Königin Großbritanniens, Irlands und der britischen Besitzungen jenseits der Meere, Hüterin des Glaubens. Am 18. September 1965 landet sie in Köln/Bonn, mit Prinz Philip und kleinem Hofstaat. Darunter ihre Kammerdamen, Gräfin von Leicester und Lady Susan Hussey, deren Vater bekanntlich der 12. Earl of Waldegrave und Ritter des Hosenbandordens ist, sowie Stallmeister Lord Plunket. In elf Tagen bereist die Queen acht Bundesländer, schreibt in 18 Goldene Bücher, stochert sich – da sind sie – durch 14 kalte Büfetts.
Unterwegs aber ist es schön. Für den Besuch der Queen hat Mercedes das erste Landaulet des 600 gefertigt. 58 weitere folgen, doch nur einer wird exakt so sein wie der königliche: dieser hier. Es ist der 600, den Mercedes seit 1972 im Fuhrpark vorhält – für gegebene Anlässe. Dazu zählt, Herrschende und Helden, Könige und Kleptokraten, Popstars und Päpste zu chauffieren, doch kaum ein Test. Wobei: Wir könnten da mal wieder bei Mercedes-Benz Classic nachfragen:
„Hallo, schönes Wetter heute.“
„Rufst du wegen des 600ers an?“
„Ich? Aber jetzt, wo du es sagst.“
„Montag um zehn ist er bereit.“
Bereiter als wir. Das geht nicht ohne Ehrfurcht, als das Landaulet vor uns steht, 6,24 Meter lang, 1,95 breit, über 1,5 Millionen Euro versichert.
Ein Auto, das die Welt bewegt
Neue Besitzer – na, eher deren Personal – leitet Mercedes in einem zweitägigen Kurs in die Technik des Fahrzeugs ein. Allein um sich über die Funktionsaufgaben der Komforthydraulik zu informieren, lässt sich ein halber Nachmittag verplaudern. Etwa darüber, dass sie mit 150 bar arbeitet, entsprechend resolut Fenster, Schiebedach oder Kofferraumdeckel schließt. Oder über die Luftfederung, die den Wagen im Niveau hält. Über die zwei anwählbaren Kennlinien der Bilstein-Stoßdämpfer. Und vor allem: wie man mit dem Pullman je aus diesem engen Hof rauskommt.
Wir kurbeln uns zur Tankstelle, füllen das 112-Liter-Reservoir und starten zur Verbrauchsrunde, als sei der 600 ein normaler Testwagen. Ist er nicht. Bald hadern wir damit, den hohen Erwartungen an unsere Prominenz nicht gerecht zu werden. Auf der Bundesstraße wagt keiner, uns zu überholen. In kleinen Städten streben die Menschen beim Anblick des Landaulets zum Rathausplatz, in der Erwartung, dort werde der Bürgermeister uns den Goldenen Schlüssel überreichen. Bald finden wir uns in dieses majestätische Unterwegssein ein. Stoppte uns eine Polizeistreife, wiesen wir den Beamten eine angemessene Position in der Eskorte zu.
Im Vorzimmer der Macht
Oberwagenführer lautete die Berufsbezeichnung des Fahrers zu Kaisers Zeiten, das klingt angemessen dekoriert für heute. Der 600 fordert die volle Aufmerksamkeit – wenngleich er mit überdosierter Servounterstützung in der indirekten Lenkung leicht fährt und sich die Vierstufenautomatik mit hydraulischer Lamellenkupplung nach Anfahrruckeln ganz auf die Macht des 6,3-Liter-V8 verlässt. Doch es gibt viel zu bedienen – Dämpferkennlinien, Telefon, Gegensprechanlage – auf dem Fahrersitz, der sich wegen der Trennwand kaum nach hinten verstellen lässt. Das Cockpit ist das Vorzimmer der Macht. Dort wird der Wagen gelenkt, im Fond der Lauf der Welt.
100 Millionen Mark investierte Mercedes in die Konstruktion des W 100, der 1963 auf der IAA debütierte. Das sind 37.355 Mark Entwicklungskosten für jeden der 2.677 Wagen, die in Halle 32 im Souterrain des Sindelfinger Mercedes-Werks bis 1981 gebaut wurden – oder eher maßgefertigt: Es könnten, so die Verkaufsbroschüre, „individuelle Wünsche berücksichtigt werden“. Die sind aus Sicht der Kundschaft Befehl, werden in Perfektion ausgeführt. Nur wer mindestens 15 Jahre bei Mercedes arbeitet, kommt infrage, an der Produktion teilnehmen zu dürfen.
Der 600 war damals eine technische Sensation. Und ist es noch. Die Federung überflauscht selbst widrige Unebenheiten. So strömt das Landaulet über die Straße, souverän, erhaben, leise und schnell. Jedenfalls sind wir schon am Ende der Verbrauchsrunde. Also noch mal tanken, den 600 zurückbringen. Über Nacht bleibt er bei Mercedes, was sich schon deswegen anbietet, weil unsere Tiefgarage den Raumbedürfnissen des Pullman kaum mit angemessener Weitläufigkeit entsprechen könnte – nicht ohne Ausbau durchaus tragender Pfeiler.
Die letzten Schleier des Frühnebels wabern über die Wiesen, als der Mercedes-Tross in Lahr erscheint. Der 600 kommt im Transporter. Als Erstes rollt das Landaulet auf die Waage, die ihm ein Gewicht von 2.948 kg bescheinigt. Anschließend vermessen wir den Innenraum. Die Fülle des Fonds erstreckt sich auf 87 cm Normsitzraum – genug, um noch zwei Passagiere auf den zwei rückwärtsgewandten Mittelsitzen unterzubringen. Jetzt den Wendekreis messen, bei dessen 14,2 Metern das Flughafen-Vorfeld von Lahr etwas eng erscheint.
Unser Testprozedere erfährt für den 600 einige Änderungen. So messen wir die Geräusche im Fond bei hochgefahrener Trennscheibe. Zwar verheddert sich der Wind vorn an den steilen Dachsäulen, doch im Hinterzimmer bleibt es unter dem dick gepolsterten Stoffverdeck so diskret. Überhaupt, dieser Komfort auf dem neigungsverstellbaren Knautschsofa. Und die Weite des Raums, den bei offenem Dach das hochgetürmte Verdeck als Diskretionskragen umhegt.
Otto redet vorn wohl etwas, aber ich höre es nicht durch die Trennscheibe, die Gegensprechanlage habe ich ausgeschaltet – wünsche, nicht gestört zu werden. Draußen ziehen die Höhen des Schwarzwaldes vorbei, so könnte es weitergehen. Doch dann verlangsamt der Schwarzwald, bleibt endlich stehen. Otto öffnet die Tür und fragt, ob es dem Hofnarren da hinten nun genehm sei, beim Messen zu assistieren. Wir verkabeln die Elektronik. Weil bei diesem Landaulet die erste Stufe des Getriebes für Paradetempo übersetzt ist, sollen wir nicht hart beschleunigen. Doch selbst nach sachtem Start genügt die Wucht des V8 mit 250 PS und 500 Nm, um den Dreitonner in 12,9 Sekunden auf 100 km/h zu stemmen.
Paradedisziplin: Slalom stehend
Oh, es geht herrschaftlich voran im Landaulet. Die Verzögerung wiederum ereignet sich in würdevoller Gelassenheit und mit sachtem Überbremsen der Hinterachse. Obgleich 13 bar Druck die Bremskraft verstärken, vorn je zwei Zangen zupacken, gibt es wenig Grund zur Annahme, dass der 600 beim dritten Versuch aus Tempo 100 weniger als 63,4 Meter zum Anhalten benötigen könnte. So belassen wir es damit und bereiten den Wagen für die Fahrdynamik-Prüfungen vor, indem wir das Dach öffnen. Später wird das Landaulet noch mit 46,6 km/h den Slalom umschreiten, mit 84,6 km/h durch den doppelten Spurwechsel wandeln, doch zunächst testen wir ihn in seiner Paradedisziplin: Slalom offen, stehend.
Der Sommerwind fächelt mild über die Fondterrasse, die Sonne und der Ausblick von dort färbt selbst den Flughafen von Lahr mondän. Am Ende der Landebahn wendet Otto. Ich stehe auf, halte mich an der Dachkante fest. Unten wischt der Asphalt vorbei, tief vorn sehe ich den Stern auf der Kühlerhaube, der auf die erste Pylone zielt. Ganz schön zugig hier draußen, denke ich noch, da macht der 600er einen Schlenker nach links, biegt dann rechts in den Slalom ein. Mit links festhalten, mit rechts huldvoll winken, breitbeinig das Wanken ausgleichen und: lächeln! Schon klar, dass Elisabeth II. beim Paradieren nie ihre 3,5 Kilo schwere Krone trägt, da könnte ihr leicht ein Zacken rausbrechen, wenn die runterpurzelt. Wie souverän der 600 liegt, zeigt das Tempo von 38,7 km/h beim offenen, stehenden Slalom. Womit der 600 einen neuen Bestwert in der Geschichte von auto motor und sport aufstellt.
Weniger war ja nicht zu erwarten von der staatstragendsten Limousine der Welt, die nun in den Laster geladen wird. Während es der Queen passierte, dass ihr das Polizeimusikkorps in Hamburg am 28. September 1965 zum Abschied „Muss i denn zum Städele hinaus“ hinterhersang, blicken wir dem 600 schweigend nach. Vielleicht doch salutieren? Na, wir werden aus einem Test keinen Staatsakt machen.
Vor- und Nachteile
- Ein Fond, groß und prominent wie der Balkon am Buckingham Palace oder die Benediktionsloggia am Petersdom, aber bequemer eingerichtet mit herrschaftlichem Luxus, Verdeck klappt gediegen und mit großer Geste auf, unser erster Testwagen mit
- Standartenhalter, Chauffeur sitzt in angemessener Untertänigkeit.
- Flauschige Federung, knautschige Ledersessel, zweckmäßige Haltemöglichkeiten für stehende Fahrt, Zusatzbeleuchtung für gesündere Gesichtsfarbe.
- Im Winter Erkältungsgefahr bei langwierigen Paraden.
- Der V8, ein Pfeiler der Macht, Automatik mit Paradestufe.
- Über jeden Zweifel erhaben, souveräne Lenkung, fast handlich – für 6,24 m, selbst bei flottem Tempo lässt sich majestätisch im Stehen aus dem Fond winken.
- Darum kümmern sich doch immer diese Herren in den subtil ausgebeulten Anzügen, fährt selten ohne Eskorte.
- Möge sich bitte rechtzeitig an der Route einfinden, um bei Vorbeifahrt zu huldigen, geringerer Verbrauch als Regierungsflugzeug/Militärhubschrauber/Kaiserjacht.
- Können so schlimm nicht sein, wenn selbst führende Kommunisten wie Castro und Breschnew einen 600 hatten.