Mercedes 540 K Stromlinie
Dunlops Hochgeschwindigkeits-Testwagen von 1938
Mit der Stromlinien-Limousine von 1938 restaurierte Mercedes-Benz ein Auto, das als Bindeglied der Entwicklung von den 30er-Jahren zur Neuzeit gilt. Der Aufbau entwickelte sich zum aufreibenden Puzzle.
06.10.2015 Dirk Johae- Leidenschaft ist das Lieblingswort von Ralph Hettich, wenn er vor der 1938 gebauten Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine steht und erzählt. Der Mitarbeiter des Mercedes-Benz Classic Centers ist Projektleiter für eine der spektakulärsten Autorestaurierungen der vergangenen Jahre. Über zweieinhalb Jahre erstreckten sich die Arbeiten, allein der Aufbau der Aluminiumkarosserie in Italien verschlang 4.800 Arbeitsstunden.
Da braucht es schon einen kräftigen Schuss Leidenschaft, um ein lange vor der Öffentlichkeit verborgenes Stück Kulturgut wieder zurück auf die Straße zu bringen. Mit vielen Dokumenten aus dem reichhaltigen und großen Firmenarchiv startete die Arbeit an dem Projekt "Mercedes 540 K Stromlinie". Zunächst musste die nicht mehr erhaltene Aluminiumkarosserie rekonstruiert werden.
Fotos und Pläne als Vorlage
In einem ersten Schritt übertrugen Konstrukteure die Linienrisszeichnung von 1938 per Computer in eine digitale 3-D-Ansicht. Außerdem nutzten die Mercedes-Historiker Fotos der Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine aus den 30er-Jahren. Immer wieder zeigt Hettich die gestochen scharfen Schwarz-Weiß-Fotografien, die das Auto von allen Seiten zeigen: "Dass diese Fotos so gut sind, ist ein Geschenk", schwärmt der gelernte Karosseriebauer.
Dank der hohen Auflösung der Bilder lassen sie sich extrem vergrößern und offenbaren jedes Detail der Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine: zum Beispiel die speziell angefertigte Tankklappe hinter den beiden Seitenscheiben oder den oberhalb des Kühlers aufgemalten Mercedes-Stern. "Das haben sie damals wie bei den Rennwagen gemacht", merkt Hettich an.
Gedacht für "Berlin-Rom"
Eigentlich sollte die Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine im Langstreckenrennen Berlin – Rom eingesetzt werden, für das einige Hersteller Autos mit windschlüpfrigen Karosserien entwickelten. Doch noch bevor das ursprünglich für 1938 geplante Rennen verschoben wurde, entschied sich der Vorstand der Daimler-Benz AG gegen die Teilnahme mit dieser nicht ausgereiften Hochgeschwindigkeitslimousine.
Wahrscheinlich wussten die Daimler-Chefs lange Zeit nichts von dem Projekt, das vom Sonderwagenbau im Werk Sindelfingen entwickelt wurde. 1932 war diese Abteilung eingerichtet worden, um zum Beispiel den betuchten Kunden für ihre luxuriösen Limousinen und Sportwagen Aufbauten aus dem eigenen Haus anbieten zu können. Als Leiter des Sonderwagenbaus hatte Daimler für die Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine den Karosseriekonstrukteur Hermann Ahrens von Horch abgeworben.
Hermann Ahrens war Vater des Spezial-Roadsters
Unter seiner Leitung entstanden zum Beispiel die heutzutage extrem begehrten Spezial-Roadster-Karosserien des 500 K und 540 K, die wegen ihrer schönen Form, vor allem aber wegen ihrer guten Verarbeitung geschätzt werden. Doch Ahrens widmete sich auch früh den Aufbauten in Stromlinienform. Die Sport-Limousine auf 500-K-Basis für die 2000-km-Fahrt 1934 gehört ebenso dazu wie der im gleichen Jahr erstmals gebaute Autobahn-Kurierwagen mit Fließheck und hinten abgedeckten Rädern sowie einer zweiteiligen, erstmals gebogenen Windschutzscheibe.
Solche gebogenen vorderen Scheiben finden sich auch in der Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine von 1938 wieder. Doch von allen Vorgängern setzt sich das jetzt wiederhergestellte Hochleistungsauto durch ein bemerkenswertes Detail ab: Zum ersten Mal ist der mächtige Spitzkühler verkleidet. Anders wäre der Luftwiderstandsbeiwert von 0,36 auch nicht möglich gewesen.
Jahrzehntelang wurde der falsche Gestalter genannt
Über Jahrzehnte schrieben Automobilhistoriker wie Werner Oswald die Karosserie der Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine dem ehemaligen Luftschiff-Ingenieur Paul Jaray zu, der schon im September 1921 sein Patent für eine Autokarosserie in Stromlinienform anmeldete und es fünf Jahre später erhielt. Doch die Daimler-Firmenhistoriker wissen, dass für die Karosserie von 1938 kein Jaray-Patent genutzt wurde.
Die Form der Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine ist eine Eigenentwicklung aus Sindelfingen: "Form im Windkanal entwickelt", hielt der Sonderbau-Leiter Ahrens in einer Arbeitsnotiz zu dem Auto fest. Zu seiner kleinen Abteilung stößt im April 1933 ein junger Karosseriekonstrukteur, der 20 Jahre später die Form zum 300 SL Flügeltürer, dem Traumwagen des 20. Jahrhunderts entwirft: Friedrich Geiger. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass er auch an der Karosserie der Stromlinien-Limousine mitgewirkt hat", meint Projektleiter Ralph Hettich.
Ebenfalls noch außergewöhnlich für die Zeit um 1938 ist die Einbettung der Scheinwerfer in die vorderen Kotflügel. Unter der Karosserie der Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine werden die schweren Lampen von einer senkrechten Stütze gehalten, die vorn im Längsträger des Rahmens verschraubt ist. "Als wir den erhaltenen Rahmen zum ersten Mal genau angesehen haben, wunderten wir uns zunächst, warum die letzte Ziffer der dort eingeschlagenen Chassisnummer ein Loch hat", erzählt der Projektleiter.
Stromlinie als Hochgeschwindigkeits-Testwagen von Dunlop
Erst durch die Wiederherstellung der Karosserie und die Anbringung der Scheinwerfer löste sich das Rätsel um die Beschädigung der eingeschlagenen Rahmennummer 189399. Diese Nummer ließ sich leicht im penibel geführten Kommissionsbuch von 1938 finden: Laut Auftragsschein vom 23.12.1937 bestellte die Deutsche Dunlop-Gummi-Compagnie AG aus Hanau/Main einen "5,4 ltr. Komp.". Als Karosserieform ist das Kürzel "Lim." für Limousine vermerkt.
Die Reifenfirma nutzte den geschlossenen Kompressor-Sportwagen, der dank einer langen Hinterachse für wenige Minuten bis zu 185 km/h schnell fahren konnte, ab dem Frühjahr 1938 für ausgiebige Testfahrten zur Erprobung von Hochgeschwindigkeitsreifen. "Die Spuren am Rahmen und an der Radaufhängung lassen auf eine sehr intensive Nutzung schließen", stellt Hettich fest.
Nach 1957 verschwand die originale Leichtmetall-Karosserie
In den 50er-Jahren wird das Einzelstück an den Hersteller zurückgegeben, damals noch mit dem Aluminiumaufbau. Der existierte zumindest noch 1957. Aus diesem Jahr gibt es ein Foto des damaligen Lehrlings Eckhart Reichert, der sich nach der Vorstellung der restaurierten Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine gemeldet hat. Hettich hofft: "Vielleicht melden sich weitere Zeitzeugen, die uns beim Schließen anderer Lücken in der Geschichte dieses einmaligen Autos helfen können." Unter welchen Umständen die Karosserie der Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine demontiert wurde und warum sie verschwand, konnten Hettich und sein Team bislang nicht herausfinden.
Im erhaltenen Rahmen und den noch vorhandenen Fahrwerksteilen dagegen lasen sie wie in einem Krimi. Karosseriereste verrieten den Werkstoff der Karosserie, Farbreste die Lackierung in Silberbronze: "So waren auch die Silberpfeile lackiert", ergänzt Hettich. Aber die spannendste Frage sollte sich erst nach dem Zusammenbau der Mercedes 540 K Stromlinien-Limousine klären: "Ist dieses Fahrzeug überhaupt fahrbar?" Nach einem ersten Funktionstest auf einer nächtlichen Landstraße und einem dreitägigen Windkanaltest erfolgt die Praxiserprobung.
Unter dem Kreischen des Roots-Kompressors erreicht die Stromlinien-Limousine tatsächlich die Höchstgeschwindigkeit von 185 km/h. Nach zweieinhalb Jahren Arbeit steckt sehr viel Wissen in dem Auto, aber noch mehr Leidenschaft.