Icon 4x4 Mercedes 300 SEL 6.3 W109 mit LS9-V8
Corvette-Motor und andere Kontroversen
Icon 4x4 zeigt auf der SEMA einen besonders aufwändigen Restomod-Umbau. Dieser 300 SEL sieht original aus, ist es aber nicht – nicht nur in Bezug auf den Motor.
06.11.2022 Thomas HarloffDer W109 war in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren das Edelste, was Kundinnen und Kunden beim Mercedes-Händler erstehen konnten – sieht man einmal von der großen Staats- und Repräsentationslimousine Mercedes 600 ab (siehe Video unter diesem Absatz). Der Über-Benz lieh der Topversion dieser frühen S-Klasse, die damals noch nicht diese Verkaufsbezeichnung trug, ihren V8-Motor mit dem Werks-Code M100: Mit 6,3 Litern Hubraum, 250 PS, einem Null-auf-Hundert-Wert von 6,5 Sekunden und 220 km/h Höchstgeschwindigkeit war der 300 SEL 6.3 damals der Chef auf der linken Autobahnspur.
Heute, nun ja, schwimmt man mit solchen Werten allenfalls noch im Verkehr mit. Und ist sich beim Fahren mehr oder weniger bewusst, dass die betagte Technik jederzeit den Geist aufgeben könnte. Hier setzen Restomodder an und bedienen ihre Klientel mit Autos, die zwar historisch aussehen, aber mit modernisierter Technik ausgerüstet sind. Ein namhafter Vertreter dieser Spezies ist die Firma Icon 4x4, die mit Vorliebe Restomod-Umbauten alter Offroader und Pick-ups umsetzt. Die Kalifornier haben aber auch schon klassische Rolls-Royce- und Volkswagen- sowie diverse Limousinen-, Coupé- und Cabrio-Modelle aus US-Produktion unter ihre Fittiche genommen.
Wirkt original, ist es aber nicht
Nun also einen W109, der aktuell auf der Tuning-Messe SEMA debütiert. Flüchtig betrachtet sieht die Luxuslimousine, Modelljahr 1971, recht naturbelassen aus. Das ist Absicht: "Ich wollte einen Sleeper bauen, der so serienmäßig wirkt wie möglich", sagt Jonathan Ward, Gründer und Chef von Icon 4x4. Deswegen deuten nur subtile, auf dem Mercedes verteilte Details auf den Umbau hin. Zum Beispiel die Eidechse, das Icon-Markenzeichen, auf dem Kühlergrill. Hinzu kommen Embleme auf den vorderen Kotflügeln und der "6.2"-Schriftzug auf dem Heckdeckel, der später noch von Bedeutung sein wird.
Steigt man tiefer ein in das Projekt, merkt man dagegen bald: Der 300 SEL mag alt aussehen, ist in Wirklichkeit aber komplett neu. Wie Ward im verlinkten Video erklärt, blieb nur ein Gerippe der recht gut erhaltenen – weil weitgehend rostfreien – Original-Karosserie übrig. Allerdings hing die Luftfederung des ins kalifornische Städtchen Riverside erstausgelieferten W109 (dieses Feature war der zentrale Unterschied zum stets stahlgefederten Schwestermodell W108) durch. Die Spritzwände hat Icon 4x4 versetzt und den Unterboden erneuert. Der Lack entspricht in seiner Farbigkeit zwar dem Vorbild von 1971, ist trotz Patina-Look aber ebenfalls neu. Die Scheinwerfer leuchten nun mit LED-Technik, fehlende Zierleisten und Ähnliches hat die Truppe aus Los Angeles selbstverständlich ersetzt.
Innen gingen Ward und Co. ähnlich vor. Was original aussieht, ist es – vom aufbereiteten Ebenholz und Metall abgesehen – nicht zwangsläufig. Das trifft beispielsweise auf die Sitze zu. Oder das Bluetooth-Soundsystem, das sich mit dem ursprünglichen Becker-Europa-Bedienteil kommandieren lässt. Auch die modernisierte Klimaanlage und die neuen Lautsprecher finden in den ursprünglichen Gehäusen Platz. Bei den Instrumenten und sonstigen Anzeigen handelt es sich um moderne Teile, die sich aber nicht weit von der Original-Optik entfernen.
6,2-Liter-Kompressor statt 6,3-Liter-Sauger
Einige Rädchen und Regler des Armaturenbretts hat Icon ersatzlos gestrichen. Im Gegensatz zum Getriebe-Wählhebel samt offener Kulisse, den Ward unbedingt beibehalten wollte und nur um eine LED-Beleuchtung ergänzte. Auch das Original-Lenkrad blieb dem W109 erhalten. Neu ziehen eine Sitzheizung, USB-Konnektivität sowie Dreipunktgurte vorne ein. Zudem zahlreiche Dämmmatten, Teppiche und Fußmatten. Den Kofferraum ergänzt Icon 4x4 um neue Seitenwände, hinter denen sich allerlei Technik versteckt, und einige LED-Spots. Zudem kleiden die Kalifornier das Gepäckabteil neu aus.
Seinen Motor, das ist seit dem Texteinstieg bereits zu erahnen, büßt der 300 SEL 6.3 dagegen ein. An dieser Stelle könnte ein erster Aufschrei durch die Mercedes-Fangemeinde gehen, wobei das Konzernregal viele moderne Triebwerke bereithält, die sich gut im W109-Bug machen würden – auch besonders leistungsstarke von AMG. Doch Jonathan Ward hat sich bewusst dagegen entscheiden, einen Motor aus dem Sternen-Universum zu verwenden. Zu kapriziös, zu viel Elektronik, zu kompliziert zu warten – das Aggregat soll schließlich auch im tiefsten US-Hinterland repariert werden können.
Also sah sich der Icon-4x4-Chef das Crate-Engine-Angebot der US-Hersteller an und stieß auf den LS9-Motor. Dabei handelt es sich um jenen 6,2-Liter-V8, der unter anderem in der ZR1-Version der Corvette C6 zum Einsatz kam. Ward schätzt die Qualität sowie Haltbarkeit des Kompressor-V8 und hält ihn für "sehr gut ausbalanciert". Aus seiner Sicht handelt es sich hier um den letzten GM-Motor, bei dem die Ingenieure das Sagen hatten und nicht die Buchhalter. Außerdem sei der Antrieb (der Motor ist an die GM-Viergang-Automatik 4L85E gekoppelt, die allerdings optimiert wurde) vergleichsweise einfach zu warten.
Getunter Antrieb, neues Chassis
Komplett in jenem Zustand, in dem er per Kiste verschickt wird, bleibt der Motor freilich nicht. Icon 4x4 versetzt ihn im Motorraum so weit nach hinten wie möglich und spendiert zusätzlich eine neue Motorelektronik, tauscht Leitungen und die Verkabelung aus, verpasst dem Mercedes eine neue Kraftstoff- und Ölversorgung (Letzteres weiterhin per Trockensumpfschmierung) und installiert obendrein ein anderes Kühlsystem. Eine maßgeschneiderte Abgasanlage mit je einem Endrohr rechts und links leitet die Hinterlassenschaften des Kompressor-V8 nach außen ab.
Konkrete technische Daten oder Fahrwerte nennen die Kalifornier noch nicht für ihren Restomod-W109 mit Corvette-Motor. In besagter Corvette ZR1 liefert der LS9 satte 647 PS und ein maximales Drehmoment von 819 Newtonmetern. Von null auf 60 mph (96,6 km/h) soll es für den 300 SEL in etwa 4,5 Sekunden gehen, die Viertelmeile soll er in unter elf Sekunden aufschnupfen. Ob sich die Werte in der Realität darstellen lassen, wollen Ward und Co. nach der SEMA auf dem NASCAR-Oval in Las Vegas überprüfen.
Doch damit nicht genug der Neuerungen; die entscheidende wurde noch gar nicht erwähnt. Der Mercedes-Klassiker erhält nämlich ein komplett neues Chassis, bei dem sich die Kernkompetenz der Firma zeigt: Es handelt sich um einen eigens angefertigten Leiterrahmen – und damit einen Unterbau, wie man ihn sonst eher von Hardcore-Offroadern kennt. Gleiches gilt für die Hinterachse des Typs Dana 60. Bevor das Chassis – eine Einzelanfertigung – eingepasst werden konnte, wurde der W109-Unterbau komplett digital vermessen. Das war wichtig, um alle Kabel und Leitungen optimal hindurchführen zu können.
Tausende Arbeitsstunden, 450.000 Dollar
Damit sich der Restomod-Schwabe nicht allzu offroadig fährt, verfügt er rundum über Einzelradaufhängung samt Gewindefahrwerk sowie verstellbare Stabilisatoren. Über Wilwood-Naben sind eigens angefertigte, 18 Zoll große Einteiler-Felgen des Spezialisten EVOD verknüpft, die mit Reifen der Formate 255/45 ZR18 vorne und 285/40 ZR18 hinten ummantelt sind. Die Bremsanlage stammt aus dem Hause Brembo, auch die Servolenkung zieht neu in den betagten Mercedes ein.
Einen Preis nennt Jonathan Ward für den Restomod-W109 übrigens nicht. Im Gegensatz zu US-Medien, die einen Tarif von 450.000 Dollar (aktuell umgerechnet etwa 455.600 Euro) aufwärts kommunizieren. Trotzdem bleibe für Icon 4x4 ein vergleichsweise geringer Gewinn hängen, weil das Projekt so aufwändig gewesen sei. Intern sind Ward zufolge etwa 2.000 Arbeitsstunden angefallen, extern seien es schätzungsweise weitere 2.500 bis 3.000. Verkauft ist das hier gezeigte Auto trotzdem schon; es entstand auf Initiative eines Stammkunden.