Der 100-km/h-Club

Die Entdeckung der Langsamkeit

Gemächliches Autofahren bedeutet die höchste Stufe der Entspannung nach aller Beschleunigung: Wer sich nach dem Laufen, Reiten, dem Rad- und Autofahren sowie dem Fliegen für einen Kleinwagen, einen Vorkriegs-Oldtimer oder einen originellen Land Rover entscheidet, ist schon vor dem Losfahren angekommen. Willkommen im 100-km/h-Club.

Kabinenroller, Seitenansicht Foto: Dino Eisele 9 Bilder

Beschleunigen ist ein Vorgang, der die Menschheit auf ihrem Weg weit vorangebracht hat. Beispiel gefällig? Bitte sehr: Die ersten Reitertruppen schlugen die noch zu Fuß in die Schlacht ziehenden Soldaten. Danach überwältigten die Kraftfahrt-Regimenter die Reiterei, nur um später den Flugzeugen zu erliegen. Nicht Starke besiegen Schwache, nicht Große Kleine, sondern die Schnellen die Langsamen.

Der Zustand rasenden Stillstands

Klar ist: Beschleunigen bringt zunächst einmal Tempo, und mehr Beschleunigung bringt mehr Tempo. Tempo aber macht, wie bereits angedeutet, glücklich und überlegen, weshalb einfache Geister die Formel entwickelt haben: je schneller, desto glücklicher. Anhänger dieser Denkungsart suchen sich ihre Autos nach der letzten Zahl am Anschlag der Tachonadel aus, weshalb sie auch Digitaltachos für dumpfe Displays ohne jeden Sex-Appeal halten.

Das ungezügelte Beschleunigen aber, so der Tempo-Philosoph Paul Virilio, führt zwangsläufig in einen tranceartigen Zustand des rasenden Stillstands. Auch die schnellsten Automobile stehen im Stau bewegungslos. Die noch schnelleren Flugzeuge erzeugen vor den Abfertigungsschaltern endlose, jedes Tempo verneinende Warteschlangen. Und der negativste Effekt: Je rascher ich mich bewege, desto weniger Details nehme ich wahr. Tempo wird so zum nur mehr oberflächlichen Bewegungsreflex.

Viele Reisen sind schon heute keine Reisen mehr, weil der Urlauber nach einem zweistündigen Flug etwa auf die Balearen am All-inclusive-Büffet auf seinen Nachbarn trifft, der sich dort ebenfalls erholt. Dies wiederum bedeutet Stillstand für das Erweitern des Erfahrungshorizonts, das aber unerlässlich ist: Nur wer beim Reisen seinen Horizont erweitert, reist tatsächlich. Am bedrohlichsten scheint da das Internet. Nach jahrtausendelangem Beschleunigungsfortschritt, so ist Virilios Werken und ihren Kritiken zu entnehmen, droht nun totaler Rückschritt und Ohnmacht. Reglos dasitzend und nur noch auf das Geflimmer der Bildschirme in Echtzeit reagierend, wird der künftige Mensch vor dem Laptop wie eine Hybrid-Pflanze dahinvegetieren.

Autowandern als Therapie

Wenn Sie jetzt, werte Leserin, lieber Leser, von einer unerklärlichen Zukunftsangst ergriffen werden und unwillkürlich den Klageruf ausstoßen "Ich will aber keine Hybrid- Pflanze werden, sondern meinen Erfahrungshorizont durch Reisen im gemächlichen Automobil gerne erweitern", dann sind Sie in dieser Geschichte völlig richtig. Hier werden Sie nicht unendlich beschleunigt bis hinein in den rasenden Stillstand mit seiner maximal unscharfen Realität, sondern bekannt gemacht mit dem Charme der Langsamkeit und der Intensität automobiler Erlebnisse, die kein Videospiel auch nur annähernd so eindringlich vermitteln kann.

Motor Klassik bleibt hierfür diesseits der 100-km/h-Grenze und hat sich zum Verdeutlichen der Reize einer entschleunigten Lebensart eine Handvoll klassischer Automobile ausgesucht, die gar nicht anders können als auf der punktefreien Seite des regulären Landstraßentempos zu bleiben.

Beispiel Nummer eins rollt nicht auf Rädern, sondern auf vier Kettenpyramiden. Es ist für den Fahrer und seine wagemutigen Passagiere sozusagen ein Land Rover im ersten Stock. Das Besteigen der Kabine haben Eichhörnchen und Faultiere am einfachsten: Die einen huschen und springen über die Ketten empor bis auf den Fahrersitz, die anderen hängen sich mit den Krallen kopfunter an Schweller und Tür und ziehen sich dann langsam ins Cockpit. Als Mensch zählt man am besten zu den trainierten Turnern, dann schafft man es auch ohne Leiter. Ein paarmal ein- und aussteigen ersetzt einen Tag im Fitness-Studio.

Ritt auf dem Arbeitselefanten

Zwischen 15 und 50 Exemplare soll die schottische Firma Cuthbertson zwischen 1958 und 1972 gefertigt haben. Auf einen soliden Rahmen wurde der ganze Geländewagen samt seiner Alu-Karosserie montiert. Dann ersetzten Zahnkränze die Räder, und auf insgesamt 16 Luftreifen rollen vier Gleisketten. Das geht sogar auf Asphalt erstaunlich geschmeidig und geräuscharm.

Schalten ist ein kleines Problem, denn die unteren Gänge des Vierganggetriebes sind nicht synchronisiert. Kaum kuppelt der Fahrer aus, kommt die Fuhre von ihrem eigenen Widerstand gebremst zur Ruhe. Dann heißt es anfahren im Zweiten, was glücklicherweise auch nicht unmöglich ist. Der Ketten-Land-Rover malmt endlich wie ein Knabentraum aus den Elementen Panzer, Planierraupe und Heavy-Duty-Geländewagen durch den Schnee, dass sich der Fahrer fühlt wie ein indischer Mahut, der seinen Arbeitselefanten zum Dienst reitet.

9,5-Liter-Vierzylinder bewegt 2,5 Tonnen

Bloß nicht stehen bleiben, sonst geht die Zeremonie mit dem Anfahren wieder los. Für einen Handlingkurs ist der Cuthbertson trotz gewaltiger Servolenkung nur bedingt geeignet: Mit seinem Wendekreis von 15 bis 20 Metern würde er bei einer Passüberquerung kläglich scheitern, es sei denn, er nähme eine direkte Linie von unten nach oben. Dies ist dank seiner superkurzen Geländeübersetzung nicht undenkbar. Das Tempo ist absolut egal. Schrittgeschwindigkeit genügt, wenn die Schnittstelle zwischen Himmel und Erde ein Cuthbertson ist.

Von Servolenkung hat der American LaFrance Roadster noch nichts gehört. Er entstand 1907 als Feuerwehrwagen, gilt mit seinen 2,5 Tonnen Lebendgewicht und dem 9,5-Liter-Vierzylinder als nahezu unkaputtbar und wurde deshalb von seinem Herrn schon für eine etwas ausgedehntere Tour eingesetzt: Von Peking ging es damals unter dem Sinsheimer Museumsbesitzer Herrmann Layher ab in Richtung Paris.

Lohner-Porsche von 1901

Knapp 100 km/h soll der automobile Saurier erreichen, doch wir belassen es bei 80. Im modernen Verkehr fällt unangenehm oft und deutlich auf, was es bedeutet, ohne Frontbremsen unterwegs zu sein. Der Roadster wirkt wie ein Suchgerät für Auffahrunfälle, und die Lenkung verlangt nach den Muskeln eines Presslufthammer-B-B-B-Bernhard. Der Horizont wird erweitert: So gondelt ein Eisenwalzwerk über Land.

Der Lohner-Porsche aus dem Jahr 1901 bremst elektrisch bis zum Reifenquietschen, wird auch elektrisch geschaltet, rollt aber nur auf ebenem Untergrund manierlich geradeaus. Seine vorderen Räder mit den Nabenmotoren wiegen pro Stück etwa 100 Kilogramm und neigen zu trägem Eigenleben. Wir überschreiten 20 km/h nicht. Dass sein Erfinder mit genau diesem Auto auf den Straßen des Jahres 1903 von Wien bis nach Nizza gekommen ist, weckt tiefen Respekt, auch vor der Fitness des genialen Ferdinand Porsche.

Der Luxus des hohen Tempos

Welch ein Luxus höheres Tempo noch in den 1920er-Jahren war, zeigt das Kommissbrot von Hanomag. Die kleine Blechschatulle springt und schüttelt sich den Weg entlang, dass der Gedanke "schneller" gar nicht an die Oberfläche des Bewusstseins steigt, sondern wie ein Kiesel im Wasserglas stabil auf dem Schädelboden liegen bleibt.

Im AWZ P70 Coupé ersetzen das rote Innenleder und die Aluminium-Applikation auf der Haube über dem 22-PS-Zweitakter fehlende Rasanz. Die betulichen 90 km/h ermöglichten es aber Fußgängern und Radlern ab 1957, die sozialistische Luxuskarosse tiefenscharf zur Kenntnis zu nehmen.

Erich Ledwinka, Konstrukteur des ab 1959 gefertigten Mini-Geländewagens Steyr-Puch Haflinger, sah vermutlich auch in der menschlichen Anatomie nichts anderes als sein Fahrgestellprinzip: Zentralrohrrahmen (Wirbelsäule) mit Pendelachsen (Arme und Beine). Das erhöht die Geländefähigkeit, und dann reichen schon 27 PS, um die aberwitzigsten Sandgruben und Matschfallen zu durchkrabbeln. Die 64 km/h Höchstgeschwindigkeit wirken im Haflinger genauso wie Tempo 30 oder 50: ein Höllenritt, der die Insassen ständig aus den Sitzen katapultiert.

Die 96 km/h des 200er-Kabinenrollers wirken da geradezu komfortabel, doch ist die Knüppellenkung direkt wie in einem F1-Rennwagen. Dem rasenden Dasein der GP-Piloten verordnet das Reglement übrigens ebenfalls Oasen der Entschleunigung: In der Boxengasse gilt Tempo 80.