Indianapolis Oerlikon

Schweizer Steilvorlage

Eine 100 Jahre alte Radrennbahn im Zürcher Quartier Oerlikon beschert einmal im Jahr US-amerikanisches Indy-500-Flair inklusive Steilkurve und V8-Gebrüll - und das mitten in Europa.

Oerlikon, Buick, Nash Foto: Hardy Mutschler 16 Bilder

Mein Gott, ist das steil! Neun Meter ragt die gewölbte Betonwand in den Zürcher Sonnenhimmel, 44,5 Grad ist das graue Band geneigt. Und darüber kann man mit Autos und Motorrädern fahren, ohne abzurutschen?

Rennstrecke ist fast so alt wie Indy

Zum Glück - man kann. Schon zum zehnten Mal importieren etliche Akteure der erfindungsreichen Schweizer Rennszene eine Dosis Indianapolis-Flair in ihre Heimat. Dabei genügen ihnen in ihrer Bescheidenheit ein genau 333,3 Meter langes Radrennoval und drei Zeitfenster innerhalb einer abendlichen Radsportveranstaltung im Zürcher Stadtteil Oerlikon.

Durch das Rennbahn-Oval von Oerlikon weht aber nicht nur ein Hauch von Indianapolis – das Beton-Rund ist auch beinahe so alt wie der US-Speedway. Am 25. August 1912 wurde die Radrennbahn eingeweiht, also nur drei Jahre nach Indianapolis: Sie gilt als eine der ältesten Spannbetonkonstruktionen der Welt, konzipiert von zwei Dresdener Architekten.

In dieser Kulisse verzichten die Racer gern auf Rundenzeiten, Zweikämpfe und Platzierungen: Es geht allein um das Erlebnis Steilkurvenoval, quasi Indianapolis in einer Schweizer Nussschale. Das klingt nach einem äußerst entspannten Abend mit interessanten historischen Autos und Motorrädern. Doch am Volant wird das Nippen am Indy-Original zu einer anstrengenden Rundfahrt.

Belastungen für Mensch und Maschine sind in der Steilkurve enorm

"Die Belastungen in den Steilkurven sind enorm und die Geraden zum Entspannen recht kurz", mein Oerlikon-Rookie Hannes Steim, der aus seinem 120 Kilometer entfernten deutschen Heimatort Schramberg angereist ist. Im Zürcher Nudeltopf kreist er beim Indianapolis Oerlikon mit einem Miller Sprintcar von 1937, den er als Teil einer Sammlung zur Ergänzung des heimischen Museums gekauft hat.

Der 90 PS starke Einsitzer mit klassischem Frontmotor und rundlicher Karosserie ist mit seinem kurzen Radstand wie geschaffen für die engen Kurvenradien der schrägen Pistenarena. Gebaut wurde Steims amerikanischer Rennwagen in der Manufaktur von Harry Miller, dessen Konstruktionen in den 20er und 30er Jahren die erfolgreichsten beim 500-Meilen-Rennen auf dem Oval von Indianapolis waren.

Beim Indy 500 jubeln 400.000 Fans, in Oerlikon 4.000

Die bis heute ausgetragene Veranstaltung, eines der berühmtesten und ältesten Autorennen der Welt, fand vor 101 Jahren zum ersten Mal statt, das Oval mit seinen Steilkurven ist die erste permanente Autorennpiste der USA und damit zugleich die Mutter aller Nudeltopf-Kurse. 400.000 Zuschauer füllen die Ränge des Motor Speedway im US-Bundesstaat Indiana, beim kleinen Ableger in Zürich sind es gerade mal 4.000.

Doch auch die Zuschauerplätze des historischen Betonovals in Oerlikon sind nahezu ausverkauft. Im Fahrerlager müssen sich die ersten Autos mühsam eine Gasse durch die vielen Besucher im Innenbereich bahnen. Hinter dem Miller bringt sich ein weiteres amerikanisches Renngerät in Stellung: ein Stutz DV32 mit blank geschliffener Karosserie zum Beispiel, unter der ein Reihenachtzylinder mit 5,3 Litern Hubraum protzt.

Dieser Rennwagen wurde 1930 in Indianapolis für den argentinischen Boxer Luis Angel Firpo gebaut, der im Ring als "wilder Pampas-Stier" berühmtberüchtigt war und nach seiner Faustkampf-Karriere mit Stutz-Automobilen handelte. Sein Kampfrekord am mächtigen Steuer des 155 PS starken Rennwagens ist nicht übermittelt, immerhin wurde der Stutz wegen seiner feinen Motorentechnik gerühmt: Im Zylinderkopf rotieren bereits zwei obenliegende Nockenwellen, die die vier Ventile je Zylinder betätigen. Dahinter wird ein Ford Ermer Special V8 von 1935 auf die Strecke gelassen. Unter dessen luftiger Fronthaube brabbelt ein Vierliter-Flathead.

Ganz ungefährlich ist das Rennen nicht, genau wie das Vorbild

"Wir haben für diese typisch amerikanischen Rennwagen einen eigenen Lauf reserviert", erzählt Georg Kaufmann, der die Regie von Indianapolis Oerlikon vor ein paar Jahren vom Erfinder Bernhard Brägger übernommen hat. Kaufmann, der selbst mit Maserati-Monoposti der 40er und 50er Jahre aktiv ist, wählt die Fahrer und ihre Autos aus. Dabei strahlt der Fabrikant aus Busslingen die genießerische Gemütlichkeit eines Schweizer Schokolatiers aus, der für diesen Festtag einmal im Jahr die sahnig-geschmeidige Masse für ein ganz besonderes "Läckerli" anrührt.

"Wichtig ist, dass die Teilnehmer Rundstreckenerfahrung mitbringen", betont Kaufmann. Auch wenn es im neun Meter breiten Betonkelch nicht um Bestzeiten und Platzierungen geht: Ganz ungefährlich ist das Fahren nicht. Warum auch sollte das anders sein als beim amerikanischen Vorbild?

Je ein Rennleiter pro Bahnhälfte wacht mit strengem Blick über das Geschehen auf der Piste: „Wer sich nicht an die Regeln hält, darf beim nächsten Lauf nicht mehr mitfahren.“ Diese ganz einfache Regel wirkt und garantiert einen entspannten Sommerabend bei der schrägsten Oldtimerveranstaltung der Welt.

Die schnellsten Fahrzeuge des Abends sind jedenfalls nicht die historischen Rennwagen und Motorräder, sondern der Sieger des Steher-Radrennens: Der mehrfache Europameister Giuseppe Atzeni erzielt im Rennen über die Distanz von 75 Minuten hinter einem Schrittmacher-Motorrad eine Durchschnittsgeschwindigkeit von über 80 km/h.

Erlesene Geschichte

So stolz wie auf ihre Bahnradtradition sind die Schweizer auf ihre erlesene Motorsportgeschichte: Der mehrfache Motorrad-Weltmeister Luigi Taveri beendet an diesem Abend auf einer Honda von 1962 endgültig seine Karriere, eskortiert auf seinen letzten Runden vom aktuellen WM-Piloten Randy Kummenacher und dem dreifachen Vize-Weltmeister Bruno Kneubühler. Währenddessen laufen im Fahrerlager bereits die Rennmotoren der schnellsten Autos warm.

Darunter ist auch der offene Sport-Prototyp, den sie liebevoll "Käseschnitte" nennen: Der erste Rennwagen von Peter Sauber mit der Modellbezeichnung C1, angetrieben von einem hochgezüchteten Ford-Formel-3-Motor mit dem Spitznamen Screamer (Schreihals).

Jochen Rindt-Auto ist am Start

Der wird aber noch übertönt vom heiseren Kreischen des Climax V8, dessen verchromte Auspuffrohre wie zwei Gewehrläufe über das Heck ragen. Mit schweizerisch-gelassenem Kennerblick entlockt Urban Fässler dem wertvollen, weil überaus filigranen englischen Formel-1-Motor die Töne, mit denen sich der Österreicher Jochen Rindt 1965 in der Formel-1-Szene zum ersten Mal dauerhaft zu Wort meldete.

In das Typenschildchen am Instrumentenbrett ist "F1-1-65" eingestanzt, das war Rindts Auto, mit dem er nur knapp hinter Jim Clark Vierter des Großen Preises von Deutschland auf dem Nürburgring wurde. Nach der Saison mit dem späteren Formel-1-Weltmeister kam das Auto in die Schweiz, wurde von Silvio Moser gefahren, dann von zwei Privatfahrern.

Urban Fässler aus der Sauber-Stadt Hinwil, Spezialist für solche kleinen Formel-Einbäume der 60er Jahre, hat den Wagen wieder in den Ursprungszustand versetzt und erinnert mit dem Auto an den 1970 tödlich verunglückten Rindt, der als einer der wenigen deutschsprachigen Fahrer beim Indy 500 angetreten ist. Alles scheint mit leichter Hand komponiert von Motorsport-Patissier Georg Kaufmann, der sich jetzt in seinem Maserati 250F ins Feld gemischt hat.

Die Progression in den Steilkurven macht den Monoposti zu schaffen

Wie Kaufmann ist auch Peter Studer schon einige Jahre in der historischen Rennszene aktiv. Der Architekt aus Widen im Bezirk Bremgarten war schon zwei Mal Gesamtsieger in der Euro Trophy für historische Formel-2-Autos.

Doch die Abstimmung seines Lotus 59, wie ihn Jochen Rindt 1969 in der Formel-2-Europameisterschaft fuhr, ist für die 333 Meter von Zürich mit den engen Steilkurven kaum möglich. "Ich habe die Aufhängung schon so hoch eingestellt, wie es eben geht", sagt er und zuckt mit den Schultern. "Aber das Chassis setzt immer noch auf." Dennoch: Es geht alles gut an diesem Abend, der zum Schönsten gehört, was die historische Rennszene zu bieten hat.

Selbst Manfred Jantke, der als Porsche-Rennleiter und Redakteur von auto, motor und sport schon fast alle Rennstrecken der Welt gesehen hat und als Begleitung von Miller-Fahrer Hannes Steim mitkam, ist beeindruckt: "Das ist einmalig."

Historie Indianapolis 500

Der Motor Speedway wurde 1909 als erste permanente Auto-Rennstrecke der USA eingeweiht. Zwei Jahre später, am 30. Mai 1911, wurde zum ersten Mal das Indianapolis 500 ausgetragen, heute das älteste Autorennen der Welt. Dabei sind auf dem 4,0225 Kilometer langen Oval mit vier Steilkurven 200 Runden zurückzulegen: Das ergibt eine Gesamtdistanz von 804,5 Kilometern oder 500 Meilen.

Ray Harroun gewann das erste Rennen mit seinem Marmon Wasp auf dem Belag aus über drei Millionen Ziegelsteinen, der dem US-amerikanischen Rennoval den Beinamen Brickyard einbrachte. Dieser Belag blieb zum Teil bis 1960 erhalten. Erst seit 1961, als AJ Foyt seinen ersten von vier Gesamtsiegen erzielte, war die Hochgeschwindigkeitspiste erstmals komplett asphaltiert - bis auf den ein Yard breiten Start- und Zielstrich.

AJ Voyt fungiert dank seiner vier Erfolge gemeinsam mit Al Unser und Rick Mears als Rekordsieger des Indy 500, erfolgreichster aktueller Pilot ist der Schotte Dario Franchitti, der das berühmte Rennen in Indianapolis bereits drei Mal gewonnen hat.
Das 500-Meilen-Rennen ist mit 400.000 Zuschauern die bestbesuchte, jährlich an einem Tag ausgetragene Sportveranstaltung der Welt.