Volvo P1800 ES Fahrbericht
Schneewittchensarg mit Bauernmotor
Legendäre Fahrberichte aus der Geschichte von Motor Klassik. Diesmal die „märchenhafte“ Titelstory von Alf Cremers über den schönsten Volvo aller Zeiten – den Schneewittchensarg von Volvo.
07.11.2014 Alf Cremers
Es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch, als mich der Volvo P1800 ES zu sich in die Pfalz einlud. Ein Tag im goldenen Oktober 2002, rotwangige Äpfel, blühende Astern, die Weinreben hingen schwer und voll. Ein Garten Eden rund um die Weinstraße, schon vormittags in warmes Sonnenlicht getaucht. Sylke Geibel, die damals etwa 25-jährige Tochter eines ehemaligen Volvo-Händlers, gab mir den Schlüssel. Einfach so, sie hatte Vertrauen, stieg rechts ein.
Das rötliche Goldmetallic seiner sportlich niedrigen Kombi-Karosserie leuchtete besonders intensiv. Schöne Erinnerungen behält man oft in einer Reihe von Augenblicken. Wenn ich mich jetzt besinne, denke ich an die kleinen Straßendörfer mit ihren sandsteinverzierten Fassaden und den blühenden akkuraten Vorgärten. Und an den Volvo P1800 ES mit seinen cognacfarbenen Ledersitzen.
Bauernmotor bildet den Kontrast zur hübschen Karosserie
Zigmal durchfuhr ich mit dem Volvo P1800 ES die kleinen idyllischen Weiler in der Südpfalz, musste für den Fotografen oft wenden. Die Schaufenster der Läden spiegelten die vornehmen Shooting-Brake-Linien, die Fassaden der niedrigen Häuser reflektierten den rauen, brummigen Klang des wenig feingeistigen Vierzylinders. Kein brillanter Motor, vielmehr ein ernüchternder Kontrast zur Ästhetik des Designs.
Kein Querstromkopf, seitliche Nockenwelle, Stirnradantrieb. Gusseiserne Hausmannskost wie in England, aber kurzhubig und immerhin mit fünf Kurbelwellenlagern. Gar nicht so drehfaul – und unkaputtbar. Ein bisschen Feintuning dank höherer Verdichtung, schärferer Nockenwelle und Bosch D-Jetronic ringt dem schwedischen Bauernmotor nach Isabella-Vorbild im Volvo P1800 ES satte 124 PS bei mutigen 6.000/ min ab, der Basismotor hat 82 PS bei 4.700/ min.
Natürlich fühlt er sich im mittleren Drehzahlbereich am wohlsten und entwickelt schon ab 1.500/min einen angenehmen Durchzug. Über 4.000/min gebärdet er sich unwillig und laut. Das britisch-direkt zu schaltende Vierganggetriebe mit elektrischem Overdrive senkt gottlob Drehzahl, Verbrauch und Geräuschpegel im Volvo P1800 ES.
Wilsgaard schuf das neue Heck
Den Schneewittchensarg – diesen märchenhaften, aber auch makabren Spitznamen muss er sich mit dem Messerschmitt Kabinenroller und mit dem Braun Phonosuper SK 4 teilen – lernte ich 1973 erstmals live bei Auto Becker in Düsseldorf kennen. Es gab den Volvo P1800 ES für mich in nur zwei tollen Farben: Eisblau und Gold. Den Prospekt von damals habe ich noch. Die Broschüre erzählte eine lifestylige Reisegeschichte: er sportlich-casual mit Rollkragenpulli und Pilotenbrille, sie in typischem 70er-Jahre-Outfit mit Hotpants und weißen Overknee-Stiefeln.
Trotz bodenständiger Eigenschaften konnte ich dem Schneewittchensarg damals in meiner Titelgeschichte etwas Märchenhaftes abgewinnen. Weil diese von Pietro Frua und Volvo-Chefdesigner Jan Wilsgaard so harmonisch gestaltete Design-Skulptur Schönheit mit Alltagstauglichkeit verbindet. Weil man sich im Volvo P1800 ES auf Anhieb wohlfühlt, weil Sitzposition und Raumgefühl passen. Weil der exklusive Wagen, den es nur 8.078-mal gab, auch nach nasskalten Nächten stets anspringt. Weil sein Motor mindestens 300.000 Kilometer ohne teure Überholung hält, selbst eine Vollrestaurierung nur 30.000 Euro kostet und dann für immer Ruhe ist.
Der Bilderbuchtag im Oktober dauerte bis kurz vor Sonnenuntergang. Im Gegenlicht glitzerten schon Taufäden zwischen gelb gerändertem Laub. Es wurde langsam kühl. Die sieben hübschen Rundinstrumente des Volvo P1800 ES leuchteten in schummrigem Grün. Das Voxson-8-Track-Radio spielte leise, der Weg war nicht mehr weit, die Fahrt nach Hause hätte ruhig länger dauern können.
Gute Volvo P1800 ES kosten rund 25.000 Euro
Der Schneewittchensarg P1800 ES ist einer der beliebtesten schwedischen Klassiker – und gemeinsam mit seinem Coupé-Bruder P1800 auch mit Abstand der teuerste klassische Volvo. Rund 25.000 Euro sind für ein gepflegtes Exemplar im Zustand 2 laut Classic Analytics fällig (Stand 11/2014). Für mäßige Fahrzeuge im Zustand 4 liegt der Einstiegspreis bei rund 7.500 Euro. Alltagstaugliche Exemplare von Kombi und Coupé gibt es ab etwa 10.000 Euro. Das Coupé wurde übrigens knapp mal so häufig gebaut – ca. 39.500 Exemplare gegenüber 8.078 Kombis.