Renault 4 GTL im Fahrbericht
Savoir-Vivre mit Marie und Jeannette
Ihre beiden ersten Renault 4 waren welke Blüten im Herbst eines erfüllten Autolebens. die junge Jeannette verliebte sich dennoch in diesen lässigen und praktischen Typ, der alles verzieh. Im polarweißen GTL kehrte das unbeschwerte Lebensgefühl von einst mit Macht zurück.
Niemand hätte bei seinem Debüt vor 50 Jahren gedacht, dass ein so zweckmäßiges und beinahe gewollt hässlich gestyltes Auto wie der Renault 4 zu einer niemals endenden Beziehungskiste wird. Die spröde, aber vielseitige Schachtel avancierte in 30 Jahren Produktionszeit zum Liebling der Generationen. Vor allem Frauen mögen ihn. Der Renault 4 vermied es geschickt, eine 2 CV-Kopie zu werden. Der Kompakt-Kombi mit Frontantrieb predigt nicht das radikale Minimum, sondern er gönnt sich, vierzylindrig, warmwasserbeheizt und geräumig, mehr Lebensqualität.
Sie nennt ihren dritten R4 liebevoll Marie. Anders als ihre rostigen und kapriziösen Vorgängerinnen Sophie und Claire, die sie vor über zwanzig Jahren besaß, ist Marie wie neu. Sie wurde für viel Geld restauriert – bei guter Basis. Marie bringt der selbstständigen Personal-Managerin im Hotelgewerbe jetzt mit Mitte vierzig die Unbeschwertheit zurück.
Aus Marie-Chantal wurde Renault 4
Was Jeannette nicht weiß: Die Codebezeichnung des Renault 4 hieß Marie-Chantal. So tauften die Renault-Testfahrer das Projekt 112 in der Vorserienphase. Wenn Jeannette hinter dem steilen Lenkrad auf dem sofaweichen Fahrersitz Platz nimmt, den heiser nuschelnden Vierzylinder startet und mit der „so wahnsinnig praktischen“ Revolverschaltung den ersten Gang einlegt, ist alles wieder so wie damals. Ihre linke Hand greift wie von selbst zum Schiebefenster.
Marie beschleunigt sanft, zweiter Gang rausziehen, dritter Gang reindrücken. Flink nimmt der 1100er Fahrt auf, ohne sich dabei besonders anzustrengen. So wenig Auto aus dünnem Blech, so schmal, so hoch und agil. Man kommt gut klar damit, freut sich, lacht mehr als in einem Großen. Die Tachonadel im Renault 4 eilt auf die 60 zu, ein beherzter Zug, der Vierte ist drin. Diese Reflexe hat Jeannette selbst in 25 Jahren nie verlernt.
Sehnlichst wünschte sie sich den gletscherweißen Renault 4 GTL. So sehr, wie andere in der erfolgreichen Mitte ihres Lebens einen Porsche 911 oder einen Triumph TR 6 begehren. Sie hat ihren Renault 4 noch nicht lange, steckt noch mitten im Mai ihrer neuen Beziehungskiste, fährt das einstige Studentenauto nur im Sommersemester auf Saisonkennzeichen.
Eine verhängnisvolle Symbiose: Rost und Renault 4
Nur eine Prise Salz könnte das frische Weiß welken lassen. Rost und Renault 4, das war stets eine verhängnisvolle Symbiose. Selbst der zwei Millimeter starke Plattformrahmen wurde zernagt. Die Blasen kamen zuerst am charakteristischen Dreiecksblech hinter der Motorhaube, die zugleich Frontpartie ist. Alle Anbauteile am Franzosen lassen sich leicht lösen, 19 Schrauben verbinden Rahmen und Karosserie miteinander, das macht Fertigung, Reparatur und Restaurierung einfach. Das Schweißgerät brauchen wir nur für die dreiteilige Bodengruppe.
Marie, ein später Renault 4 GTL von 1987, zelebriert schon bescheidenen Luxus. Es gibt sattere 145er-Gürtelreifen, Halogenlicht leuchtet bei Nacht schmale, kurvige Landstraßen besser aus. Bei Renault schnitt man sogar zwei Rückfahrlichter in die steile Heckklappe. Automatikgurte, Kopfstützen und eine Verbundglasfrontscheibe sorgen fuür einen Hauch von passiver Sicherheit, die der 730 Kilogramm leichten Blechschachtel so gar nicht in die Wiege auf der Pariser Renault-Insel Ile de Séguin gelegt wurde.
Einen Revolver in der Hand und 45 muntere PS
Das aufwendig konstruierte Fahrwerk mit Drehstabfederung rundum und hinterer Einzelradaufhängung an geschmeidigen Längsschwingen hilft schon vorher, das Schlimmste zu vermeiden. Marie hat bereits vordere Scheibenbremsen samt Zweikreis-Bremssystem, die halten ihr mildes Temperament gut im Zaum. Jeannette schätzt Maries agilen 1100er-Drosselmotor, der seine 34 PS viel lässiger aus dem Krümmer schüttelt als der nervösere 845er, der noch aus dem Cremeschnittchen 4 CV stammt. „Aber das typische Renault 4-Geräusch, ein heiseres Heulen, das selbst nach Hunderten von Kilometern sichere Ankunft verspricht, kann Marie nicht so gut wie ihre Vorgängerinnen“, klagt Jeannette.
Kein Wunder, der Elfhunderter ist ein ganz anderer Motor. Er stammt aus der sportlich ambitionierten Heckschleuder Renault 8, leistet entfesselt 45 PS, hat fünf Kurbelwellenlager statt drei, anders als der extreme Langhuber aus dem 4 CV eine fast quadratische Auslegung und einen Leichtmetallzylinderkopf. Das bringt im Verbund mit der höheren Verdichtung anderthalb Liter Spritersparnis auf 100 Kilometer.
Heute ist ein Urlaubstag für Marie, sie hat Auslauf. Der noch junge Mai feiert Hochsommer. Es geht von Utting am Ammersee nach Starnberg zum Einkaufen. Die Nebenstrecke über Seefeld entpuppt sich als ideales Renault 4-Terrain, kurvenreich und hügelig schlängelt sie sich durch dunklen Mischwald, Klöster und Schlösser säumen den Weg in der reizvollen, Fünfseenland getauften Gegend.
Der elastische Motor desn Renault 4 begnügt sich in dieser milden Topografie mit schwungvollem Wechsel zwischen dem dritten und vierten Gang. Die Passagiere fühlen sich auch ohne das optionale Faltdach wohl. Wald und Fluss und See riechen frühlingshaft. Schiebefenster und Frischluftklappen sind voll geöffnet.
„R4-Design ist gutes Design“
Im Kreise kultiger Kleinwagen-Evergreens hat der Renault 4 vielleicht das geringste Charisma. Fiat 500, Austin Mini, Citroën 2 CV und VW 1200 bemühen das Kindchenschema und setzen auf den Niedlichkeitseffekt, der dem schachteligen ernsthaften Werkzeug Renault 4 fehlt.
Jeannette sieht die schroffe Linienführung ihres geliebten Renault 4 beinahe philosophisch: „Eine gewisse Skurrilität – Hässlichkeit will ich nicht sagen – sorgt auch für eine große Individualität und Zeitlosigkeit. R4-Design ist letztlich gutes Design, weil es auch nach 30 Jahren keineswegs peinlich wirkt.“ Sie hat recht, ein pummeliger Renault 10 Major aus der gleichen Ära wird heute gerne belächelt, während der auch schon 1965 präsentierte R 16 als Ikone der Raute gilt.
Generell markieren die Erfolgsmodelle R 4 und R 16 eine Kehrtwende bei Renault. Es lebe der Frontantrieb, die Heckmotorwagen Dauphine, R 8 und R 10 laufen aus. Es ist die französische Traction Avant-Schule à la Citroën DS, die zunächst siegt, sprich Getriebe vor und Motor längs hinter der Vorderachse dicht an der Spritzwand, bis der Renault 12 von 1970 das kopflastigere Audi-Prinzip umgekehrter Anordnung aufnimmt.
Marie schwebt auf den schmalen Gürtelreifen des Renault 4 die steile Abfahrt zum Starnberger See hinunter. Rund um den historischen Bahnhof gibt es ein kleines, verzweigtes Straßenlabyrinth mit edlen Boutiquen, Parfümerien, Schuh-Salons und sogar ein Bang & Olufsen-Studio. Dazwischen sind immer wieder kleine Bistros und noble Cafés eingestreut. Marie fühlt sich in diesem noblen Ambiente nicht ganz wohl – ihr, der rustikalen Landmaid, ist mehr nach Großmarkthalle oder Schlachthofviertel.
Savoir-Vivre erleben
Aber Thalkirchen, der Bauch von München, ist noch 30 Kilometer weit, und sie mag das Verkehrsgewühl der Großstadt nicht. Hier in Starnberg, der Stadt der meisten Millionäre, wird sie von Porsche Cayenne, Mercedes SL und BMW Z4 umzingelt. Aber die Passanten mögen sie. Eine Frau, gut gekleidet und so um die vierzig, sagt zu ihrer Tochter: „Schau mal, das weiße Auto dort fuhren wir als Studenten, dass es sowas heute noch gibt.“ Ein älterer Mann beglückwünscht uns zum „tollen Auto im Super-Zustand“, meint dann aber eher mitleidig: „Die sind doch alle zusammengerostet.“ Genau wie ein Mercedes Strichacht, ein BMW 1800, ein Audi 100 Coupé S, hätten wir am liebsten entgegnet. Rost machte damals auch vor Premium nicht Halt.
Marie und Jeannette erkennen, dass Luxus und Design nicht ihre Welt sind. Auf der anderen Seite von der B2 in den schmalen Gässchen rund um den Tutzingerhofplatz pulsiert das normale Leben. Zwischen Feinkost Sembritzki, Metzgerei Kandler und dem Bistro Cassis flackern in der späten Nachmittagssonne Bilder aus dem Elsass auf. Marie fühlt sich auf diesem Gourmet-Spielplatz wohl wie nie, steht sie doch auch archetypisch für die französische Philosophie der Bescheidenheit beim Automobil zugunsten kulinarischer Freuden.
Heute sehen wir den Renault 4 anders. Er ist kein primitives Zweckvehikel mehr, sondern Ausdruck eines zeitgemäß-nachhaltigen Savoir Vivre.