Ford Sierra 2.0i LX im Fahrbericht
Ehrliche Haut ohne Image
Die inneren Werte des Ford Sierra verbergen sich hinter einer banalen Karosserieform. Sie kam rasch aus der Mode, der Wagen galt lange nichts. Selbst die Youngtimer-Szene spielt nicht gern mit ihm.
So ein ganz Normaler Ford Sierra tut sich noch schwer, gut gefunden zu werden. Doch der Ausspruch "Ey, coole Karre", den uns ein junger, wild aussehender Kerl ohne Schnürsenkel in den Turnschuhen während des Fotoshooting so beiläufig wie eine Zigarettenkippe vors Auto warf, lässt hoffen. Spießerautos von einst haben ja an sich gute Chancen in den Youngtimerhimmel zu kommen, noch bevor sie das H-Kennzeichen zu erhaltenswertem Kulturgut stempelt.
Heiße Brüder: Ford Sierra Cosworth und XR4i
Granada und Hundertdreiundzwanziger schaffen dies sogar in Buchhalterausstattung und in Magermotorisierung, wenn die Farbe stimmt. Nur bei einem ganz normalen Ford Sierra klappt es noch nicht. Die Türsteher der Coolness lassen allenfalls einen bizarren Ford Sierra XR4i mit bulligem V6-Motor oder einen Cosworth, am liebsten den herrlich prolligen der ersten Serie, rein. "Was denn - eine stinknormale Stufe Zweinull El-Ix und dann noch in Silber? Versucht es doch mal da drüben beim Ball der einsamen Herzen."
Allenfalls als Winterauto würde man den Ford Sierra nehmen, mattschwarz rollen und dann gnadenlos runterreiten. Was nicht einfach ist, denn mit der gusseisernen Zweiliter-OHC-Maschine ist er praktisch unzerstörbar. Selbst wenn der Zahnriemen reißt, bleiben die Ventile standhaft. Auch das Fünfganggetriebe samt solidem Kardanantrieb hält ewig, der Ford Sierra ist eben kein verzärteltes frontgetriebenes Weichei mit Antriebswellen-Migräne. Zur Not kann man aus ihm einen Pick-up für die Dritte Welt dengeln.
Der Bruch mit der Ford Taunus-Biederkeit kam zu abrupt
Das Leben ist nicht fair zum ganz normalen Ford Sierra, es ist bis heute ein einziges Missverständnis. Anfangs, in seiner radikalen Tropfenform, war er den Spießern aus dem Taunus-Lager zu extremistisch. Sogar Horst Schimanski karriolte in zwei Tatort-Folgen mit einem gletscherblauen Sierra durch Marxloh, Ruhrort und Hochfeld-Süd. Nein, für die konservative Ford-Stammkundschaft musste ein verhärmter Rucksack-Escort namens Orion oder der Sierra-Laser als Zweitürer her, nur weil er noch ein bisschen Kühlergrill hatte.
Später, ab Modelljahr 1987, kämmten ihn die Ford-Designer auf Mainstream. Keine Bullaugen-Seitenscheiben mehr, die zuvor von Styling-Chef Uwe Bahnsen so schön badewannig reinmodellierten Scheinwerfer jetzt bündig, die Stufenheckvariante nachgeschoben. So verlor der Ford Sierra diesen avantgardistischen Hauch eines Strömungskörpers à la Citroën, gewann aber mächtig Marktanteile vor allem bei korrekten älteren Herren.
Im Ford Sierra zurück in 80er
Einem solchen verdankt unser 90er Ford Sierra 2.0i LX sein kerngesundes Überleben. Wenig Kilometer, erst 129.000, noch weniger Rost und viele Werkstatt-Stempel in der kompletten Servicemappe, der Winterreifen im Kofferraum noch fast neu. Diese Unverbrauchtheit hat etwas Anziehendes. Was der betulichen äußeren Form fehlt, da hilft auch der umlaufende rote Zierstreifen nichts, er macht alles nur noch schlimmer. Ist man nach einiger Überwindung erst mal eingestiegen - "trauen Sie sich, haben Sie einen Tag Spaß damit", sagte der freundliche Herr Merk und streckte mir den komischen Zick-Zack- Ford-Schlüssel entgegen - ist es auf einmal nicht mehr so schlimm. Dann schiebt man die Cassette "Eighties Acces" ins originale Ford-Radio und schaltet auf achtziger Jahre um, der Sierra-Fahrersitz beamt dich in eine andere Welt.
Das Interieur des Ford Sierra trägt auch nach der 87er Modellpflege die skurrilen Züge der Urversion. Die vielen kubischen Elemente des Instrumentenbretts sind virtuos verschachtelt, die Mittelkonsole ist ein vorspringender Erker, aus dem vorwitzig der gummigelagerte Schalthebel hüpft. Hier scheint, anders als außen, nichts aus einem Guss. Selbst der Drehzahlmesser, immerhin ist beim Zweiliter einer an Bord, scheut sich rund und damit normal sein zu dürfen. El-Ix heißt eben nicht Ghia, sondern Basis.
Deshalb verdienen die Türpappen ihren Namen, und auch die Sitzbezüge im Ford Sierra 2.0i LX schimmern nicht edel velourig. Sie sehen aus wie Geschirrtücher aus Mutters Spülkabinett und fühlen sich so an.
Gusseisernes Triebwerk mit US-Vergangenheit
Trotz G-Kat hört man beim Schlüsselrumdrehen sofort brummige Taunus-Klänge raus. Was kein Fehler ist, denn die einst für den US-Kompaktwagen Pinto konstruierte Maschine des Ford Sierra ist zwar nicht brillant, dafür aber robust, durchzugskräftig und drehfreudig.
Ein modernes Motormanagement mit Bosch L-Jetronic und Ford EEC-Kennfeldzündung macht ihn sauber und sparsam. Trotzdem hätte der verwöhnte Technik-Feinschmecker lieber das aufwendige Zweiliter-Pendant mit zwei obenliegenden Nockenwellen und 120 PS. Nicht der Leistung zuliebe, sondern um die vielen inneren Werte des Ford Sierra noch weiter zu steigern. Der kettengetriebene DOHC-Brocken gibt quasi den Alfa-Motor im biederen Ford, der Block ist der Gleiche wie beim zahmen Zweiliter, selbst die scharfen aufgeladenen Cosworth-Triebwerke mit über 100 PS Literleistung basieren auf dem Grauguss-Pinto.
Agiles Fahrwerk, leichte Bedienung
Die direkte und ehrliche Art des Ford Sierra offenbart sich auch beim Fahren. Sein Wendekreis ist klein, das Handling selbst ohne Servolenkung agil - es ist halt kein quermotorisierter Fronttriebler mit neurotischem Kraftfluss. Der Sierra fährt sich sehr angenehm. Das liegt auch an der exakten Schaltung, die mit recht langen Wegen operiert, aber so leichtgängig und geschmeidig dem H-Schema folgt, dass man die Gänge mit zwei Fingern einlegen kann. Viel Schaltarbeit ist nicht nötig, weil der Zweiliter kräftig aus dem Drehzahlkeller antritt, aber sie wird gern geleistet.
In schnell gefahrenen Kurven untersteuert der Ford Sierra sachte, er braucht keine starke Hand, die ihn hineinzwingt. Weil der Sierra kaum ernst genommen und stets unterschätzt wird, sollte man ihm das Wort "Schräglenkerachse" so breit an die Flanken schreiben wie eine Taxiwerbung. Auf der Beifahrerseite stünde dann "Hinterradantrieb". Beide Konstruktionsmerkmale heben den Ford Sierra weit über seine direkte Konkurrenz auf das Niveau eines Dreier-BMW oder eines Mercedes 190.
Das würde sein Selbstbewusstsein stärken, und er würde sich nicht ständig dafür entschuldigen, dass er nun mal so aussieht. Dabei benimmt der Ford Sierra sich schon devot genug. Zehn Liter auf Hundert, einen Viertelliter Öl auf Tausend und einmal im Monat eine Wäsche, mehr Ansprüche stellt er nicht. Beim Ford-Händler oder im Internet gibt es billige Ersatzteile - kaputt geht bei ihm sowieso nichts, er ist in seiner simplen Anspruchslosigkeit einmalig. Ein sonniger Tag bei geöffnetem Schiebedach macht sogar den Ford Sierra LX zum Ghia. Auto fahren ohne drohende Fehlermeldungen im Display kann so befreiend sein. Bei eBay gibt es gerade einen Satz schlicht schöner RS-Räder für den Sierra. Sollen wir ihm die kaufen, ein wenig Make-up? Ich fürchte, es wird nichts nützen.
Die vielen Gesichter des Ford Sierra
In Argentinien gab es sogar einen Pick-up vom Ford Sierra. Doch schon die Artenvielfalt der europäischen Modelle beeindruckt. Da gibt es die seltene Urversion Ford Sierra 2,3 Ghia, den bizarren Doppelflügler XR4i, die extremistische erste Cosworth-Version und den Diesel mit 2,3-Liter-Peugeot-Motor. Geheimtipp unter den wenigen wilden Sierra bleibt der Allrad-Cosworth mit 220 PS, das ist der 500 E von Ford.