Bentley Mother Gun

Mutter der Rennboliden: Silver Bullet

Bentley Mother Gun: 350 PS aus einem Achtliter-Reihensechszylinder, ein maximales Drehmoment von 530 Newtonmeter - Eckdaten eines 82 Jahre alten wunderhübschen Monsters auf vier Rädern. Ein Erlebnisbericht.

Foto: Mike Johnson 16 Bilder

Gefahren mit Bentley Mother Gun? - zu Hause in meinem Club glaubt mir das wieder kein Mensch. Doch schlechtes Wetter hin, mieses Essen her, von der Finanzkrise ganz zu schweigen - England ist immer noch das Paradies für Liebhaber klassischer Automobile und allem, was dazugehört. Das verdeutlicht dieser feuchtkalte Wintermorgen in Radlett nördlich von London einmal mehr.

ST 3001: Der berühmteste aller Bentley

Nach einer Tasse starkem Tee mit ein paar mürben Keksen öffnet Bentley-Guru Stanley Mann das schwere Stahltor seiner Firma auf der Fruit Farm, rollt Mother Gun ins Freie, gibt mir einen kräftigen Klaps auf die Schulter und sagt: "Viel Spaß mit der Lady". Nun muss man einen Moment innehalten. Schließlich ist Mother Gun nicht irgendeiner der 3.024 zwischen 1919 und 1931 im Londoner Stadtteil Cricklewood gebauten Bentley, sondern der vielleicht berühmteste überhaupt. Bei Chassis ST 3001, fertiggestellt im Juni 1927, handelt es sich vielmehr um das erste 4.5-Litre-Modell, und der Spitzname stammt von Bentley-Boy Woolf Barnato, der analog zur Chassisnummer reimte: "S-T-Three-O-O-One - Old Mother Gun!"

Wenige Tage nach Fertigstellung war Mother Gun in Le Mans - in Führung liegend - in den berüchtigten White House Corner Crash verwickelt, bei dem seinerzeit sieben Autos ineinanderkrachten. Im Jahr darauf gewann der (damals noch dunkelgrün lackierte) Wagen das 24 Stunden-Rennen unter den Fahrern Woolf Barnato und Bernhard Rubin, 1929 wurde er mit Jack Dunfee und Glen Kidston am Steuer auf dem Rundkurs an der Sarthe Zweiter. Nach einigen Besitzerwechseln und kleineren Auftritten erhielt Mother Gun schließlich 1934 den 6,5- Liter-Sechszylinder des Speed Six, der 1930 den fünften Le Mans-Sieg für Bentley eingefahren hatte. Anschließend wurde er für Einsätze in Brooklands zum Einsitzer umgebaut, und 1936/1937 versah ihn sein neuer Besitzer Robert Jackson mit der jetzigen Karosserie aus blankem Aluminium. In dieser Form umrundete Mother Gun das Brooklands-Oval 1937 unter Kit Baker-Carr und George Harvey Noble mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 134,97 mph, sprich 217 km/h. Wohlgemerkt: Schnitt.

Rennmonster mit Straßenzulassung

Das beste an der ganzen Geschichte aber ist, dass man diesen gewaltigen Einsitzer mit dem Radstand von 3,31 Meter und der optischen Wucht einer Dampframme ganz normal unter der Zulassungsnummer DS 3029 auf der Straße fahren darf, weil Stanley kleine Kotflügelchen, Lampen und ein Bremslicht montiert hat. "Mehr braucht man in England nicht", erklärt Michael Rudnig, der Mother Gun seit fast zwei Jahrzehnten gemeinsam mit Stanley Mann auf allen Rennstrecken dieser Welt bewegt.

Ab auf die Landstraße also. Dazu muss man von Stanleys Hauptquartier erst einmal über einen morastigen Feldweg und dann durch einen schummrigen Hohlweg, den Mother Gun vollständig ausfüllt. Schließlich möchte ich nicht einfach irgendwohin, sondern auf die ehemalige Teststrecke der Bentley-Boys, die von Cricklewood Richtung Norden nach Radlett führte, genauer: in den Pub "The three Horseshoes". "Dort nahmen die Jungs ein Pint und kehrten zurück ins Werk", erzählt Stanley. Der 1589 erstmals erwähnte Pub existiert natürlich noch, wir sind schließlich in England, und an der Tür hängt ein Schild: Hunde sind nicht erlaubt, Kinder nur, wenn sie sich gut benehmen. "Der Pub tauchte mehrmals als Kulisse in Filmen auf, am bekanntesten ist 'Das Dorf der Verdammten' aus den Sechzigern", sagt die Wirtin und wirft Mother Gun bewundernde Blicke zu.

Moderne Konstruktion: Vierventiltechnik anno 1927

Dessen Triebwerk hat seine Betriebstemperatur erreicht, und nun wird es wirklich aufregend - die offene Landstraße lockt. Auf den engen Wegen und Dorfstraßen war die Vorderachse nach dem Einlenken schon längst hinter der Ecke verschwunden, bis ich endlich mit der Hinterachse nachkam. Auf der gut ausgebauten Landstraße erinnert das Einlenkverhalten zwar immer noch an Skifahren - alles geschieht mit Verzögerung -, doch die Lenkung arbeitet vergleichsweise präzise, und unter Gaseinsatz lenkt das Heck munter mit.

Fahrbahnunebenheiten dringen unkommentiert durch, ein dummerweise übersehener Speed Bump zur Geschwindigkeitsreduzierung wirft mich fast aus dem Sattel. Auch die Bremsen, Stand nun mal 1927, sind mit Vorsicht zu genießen und brauchen einen brutalen Tritt. Die gut 1,8 Tonnen Lebendgewicht schieben ganz schön, im Zweifel und auf der Rennstrecke muss zur Bremsunterstützung runtergeschaltet werden. Das gelingt mit dem außerhalb der Monoposto-Karosserie liegenden Schalthebel und unter Doppelkuppeln und Zwischengas recht gut; grundsätzlich lässt sich die Viergang-Box vergleichsweise weich und schnell schalten. So mancher frühe Käfer verfügt über eine weit störrischere Crash-Box. Auch die Kupplung erlaubt trotz Rennbelägen feines Dosieren.

Das Beste und Beeindruckendste an Mother Gun aber ist, keine Frage, der gewaltige Reihensechszylinder, schon damals mit vier Ventilen je Brennraum. Stanley hat ihn mittlerweile auf acht Liter Hubraum gebracht: "Seit der Restaurierung in unserer Werkstatt 1989 hat der Wagen gut und gerne 150 Rennen erlebt, da mussten wir ohnehin mal ran."

Einziges adäquates Mittel zur Leistungssteigerung: Hubraumvergrößerung

Technisch geschieht die Hubraumaufstockung simpel, weil es bei Bentley im Prinzip nur zwei Motor-Bauformen gab: einen Vierzylinder-Vierventiler mit obenliegender, königswellengetriebener Nockenwelle sowie drei beziehungsweise 4,5 Liter Hubraum und einen Sechszylinder mit ebenfalls obenliegender, aber schubstangengetriebener Nockenwelle und 6,5 respektive acht Litern. "Man tauscht also einfach nur das Zylinder-Bankett mit den Sackloch-Zylindern", sagt Maschinenbau- Professor Rudnig, "montiert die dickeren Kolben und hat exakt 7.983 Kubikzentimeter."

Alles ganz im Geiste Walter Owen Bentleys, der Hubraumerweiterung stets als einzig probates Mittel zur Leistungssteigerung ansah (die Blower für Tim Birkin hat er nur unter Protest gebaut) und der technisch besseren Lösung immer den Vorzug gab. W. O. sah sich stets als Ingenieur, obwohl ihn dies als Kaufmann später den Kopf kostete. Einmal saß Firmeninhaber Bentley beim Abendessen neben Studebaker-Präsident Erskine, der ihm großsprecherisch erklärte, in seiner Firma hätten die Ingenieure nichts zu sagen und den Kaufleuten zu gehorchen. Woraufhin Bentley entgegnete: "Wenn ich mir ihre Fahrzeuge so anschaue, Sir, so glaube ich das gern." Und als seine Firma längst dem Diamantenminen-Erben Woolf Barnato gehörte und dessen Kaufleute Bentley erklärten, er solle einen preiswerten, stoßstangengesteuerten Antrieb bauen, beschied Bentley kühl: "Von Stoßstangenmotoren verstehe ich nichts."

Walter Owen Bentley: Der Motorenpapst

Sein Sechszylinder-Vierventiler hingegen zählt zu den Meisterwerken im Motorenbau, in Mother Gun leistet der frei atmende Achtliter rund 350 PS bei 4.200 Touren. Schon bei 1.200 Umdrehungen entfesselt ein Tritt aufs Gaspedal eine Höllenkraft, dass einem Hören und Sehen vergeht, und das silberne Monstrum springt vor wie ein Biest aus grauer Vorzeit im Jagdrausch. Bei höheren Tourenzahlen drehen auf der feuchten Landstraße ständig die Hinterreifen durch - was für eine Urgewalt.

Für die englischen Landstraßen genügt im Prinzip der zweite Gang mit Halbgas, auf deutschen Autobahnen könnte man mit Mother Gun reihenweise Vertreter-TDI in den Tod hetzen. Dabei muss man sich eines immer wieder vor Augen führen: Dies ist ein Auto aus den zwanziger Jahren. Einfach unglaublich. Zurück zur Fruit Farm, wo Mother Gun gelassen im Leerlauf grummelt, als wolle er sagen, dass es gern noch 22 Stunden so weitergehen könne. Stanley schaut erstaunt zum Himmel und meint: "Komisch, immer wenn ich mit Mother Gun fahre, regnet es in Strömen." Wir hingegen hatten zwei Stunden strahlenden Sonnenschein. Aber das glaubt zu Hause wahrscheinlich auch niemand.